Die Leipziger Volkszeitung zu Russland/Medwedew
Archivmeldung vom 08.05.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDas waren noch Zeiten, als ein sowjetischer KP-Chef den anderen ablöste. Egal, ob Chrustschow, Breschnew oder Tschernenko in den Kreml zog - das Ergebnis war immer das gleiche: eine Supermacht zum Fürchten, aber immerhin eine ausrechenbare Rollenverteilung. Guter Westen gegen bösen Osten.
Der Westen wusste zwar kaum etwas über die Führer des Systems, aber er kannte wenigstens dessen Funktionsweise. Darauf ließ sich zumindest die eigene Strategie abstellen: Mit einem Rüstungswettlauf, der die sowjetische Wirtschaft überforderte, oder der Afghanistan-Falle, die das Militär fesselte. Natürlich blieb Moskau dem Westen nichts schuldig: mit Ideologie-Exporten, etwa nach Afrika, oder repetiertem Njet, wenn es um Menschenrechte und Pressefreiheit, kurz um eine offene Gesellschaft ging. Mit diesem widersprüchlichen, gleichwohl bequemen Verhältnis ist es seit Gorbatschow vorbei. Sicher ist: Der Machtantritt des neuen russischen Präsidenten Medwedew vollendet nach der Ära Jelzin und Putin die Transformation Russlands von einem kommunistisch gelenkten, über einen anarchischen zu einem staatskapitalistisch gesteuerten System. Unsicher bleibt: Wohin wird der neue Kremlchef das Land führen? Seine Beteuerungen, mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Demokratie und echte Opposition zu wagen, hören sich gut an. Aber lässt sich ihnen auch trauen? Medwedew ist schließlich Blut vom Blute Putins, weshalb die Vermutung nahe liegt, dass der smarte Newcomer auch Geist vom Geiste seines Ziehvaters sein muss - ein putinscher Klon sozusagen. Bislang steht der gegenteilige Beweis noch aus, weshalb sich die Bedenken über die Deklarationen Medwedews schlechterdings nicht einfach vom Tisch wischen lassen. Wie immer, wenn Unsicherheit über Politiker herrscht, sollten die Interessen jener Staaten, die sie führen, gewichtet werden. Russland mag auch unter dem neuen Präsidenten eine Sphinx bleiben, aber ihr Kopf schaut nach Westen. Russlands Eliten wissen, dass ohne Modernisierung der Gesellschaft der Abfall in die Bedeutungslosigkeit droht. Und sie wissen ebenso, diese Modernisierung ist ohne den Westen nicht zu schaffen. Hier lässt sich anknüpfen. Nicht mit einem auf Werte- und Demokratietransfer verengten Verhältnis, sondern mit Vertrauen. Seit Jahren verkommt stattdessen die so genannte strategische Partnerschaft mit Russland zum Gezänk über Werte. Russlands tatsächliche Defizite sind jedoch nur ein vorgeschobener Grund, um Russland aus Europa heraus zu halten. Dabei verkennt der Westen noch immer, dass das Russland von heute nicht nur Objekt der gelenkten Demokratie, sondern auch Subjekt seiner Geschichte ist. Russlands Gesellschaftsmodell entspringt keiner Entgleisung putinscher Politik - es stellt vielmehr eine den Verhältnissen entsprechende Form dar. Medwedew wird deshalb von gewissen Nuancierungen abgesehen den Kurs fortsetzen, den Putin vorgegeben hat, und der Marktwirtschaft mit einem mehr oder minder autoritären politischen System verbindet, das möglichst wenig dem Zufall überlässt. Ist das gut für den Westen? Die Frage ist falsch gestellt. Sie muss lauten: Ist Medwedew gut für Russland? Dann nämlich wäre der neue Präsident auch gut für Europa.
Quelle: Leipziger Volkszeitung (von Kostas Kipuros)