WAZ: Phänomen Bürgerentscheide
Archivmeldung vom 11.08.2007
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 11.08.2007 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWer etwas über die verbliebene Mobilisierungskraft von Parteipolitik erfahren will, muss sich an die oft bemühte, aber viel zu selten besuchte "Basis" begeben. Regelmäßig maue Beteiligungszahlen bei Kommunalwahlen, ausgezehrte Ortsvereine, überalterte Mitgliederstrukturen - um die lokale Kampagnenfähigkeit stand es schon besser.
Immer weniger Menschen buchten das politische
"All-inclusive-Paket" aus Mitgliedschaft, Gesinnungstreue und
Gremienarbeit am Feierabend, klagen Parteifunktionäre. Das
Meinungsklima scheint flüchtiger geworden, die Bindungslust nicht
größer.
Diese für die etablierten Parteien beklagenswerte Entwicklung wird
häufig als gesellschaftliche Entpolitisierung gedeutet. Dagegen
spricht die Bereitschaft vieler Bürger, sich durchaus punktuell zu
engagieren. Für den Erhalt des örtlichen Schwimmbades, der
Stadtteilbibliothek oder sonstiger lokaler Infrastruktur. Die fast
routiniert bejammerte "Politikverdrossenheit" entpuppt sich eher als
Überdruss an den gängigen, vielleicht unumgänglichen
Organisationsformen und Arbeitsprozessen von Politik.
Vor 13 Jahren schon hat der Gesetzgeber in Nordrhein-Westfalen den
Bürgern zwei zentrale Instrumente der direkten Einmischung in die
Hand gelegt: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Mit quälenden Quoren
und allerhand bürokratischen Pflichten versehen, kann diese Form der
Basisdemokratie jedoch Stadtrat und Verwaltung kaum gefährlich
werden. In Großstädten müssen Initiatoren von Bürgerentscheiden 20
Prozent aller Wahlberechtigten an die Urne bringen - mancher
Oberbürgermeister wäre froh, wenn er mit solchen absoluten Zahlen ins
Amt gehoben worden wäre.
So ist es wenig verwunderlich, dass 40 Prozent aller Bürgerbegehren scheitern. Verwunderlich ist vielmehr, dass NRW trotzdem bundesweit mit die aktivste Praxis in der direkten Demokratie hat. Vorneweg das Ruhrgebiet: Am Sonntag steht in Essen ein Bürgerentscheid an, Anfang September in Mülheim, auch in Duisburg, Hattingen, Oberhausen oder Velbert wurden zuletzt Begehren eingereicht.
Nicht jede Initiative ist von Weitsicht oder politischer
Verantwortung gekennzeichnet. Zuweilen werden, sekundiert von der um
lokale Verwurzelung bemühten Linkspartei, auf diesem Wege bloß
populistisch-pauschale Absagen an das Establishment adressiert.
Dennoch könnte die repräsentative Demokratie auf lokaler Ebene
stärker von der Dynamik der direkten profitieren, wenn sie ihre
Urangst vor "aktivistischen Minderheiten" ein wenig ablegte.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung