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Börsen-Zeitung: Mysterium Inflation

Archivmeldung vom 15.06.2019

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 15.06.2019 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch André Ott

Der Markt geht in den USA derzeit von rund drei Zinssenkungen aus - mit ein Grund für die relativ gute Entwicklung der Aktienmärkte. Seit dem vierten Quartal 2018 sind die Zinserwartungen förmlich eingebrochen. Der Markt ist damit "taubenhafter" als die US-Notenbank Fed in ihren eigenen Annahmen, geht also von einer weitaus stärkeren Lockerung der Geldpolitik aus.

Die Fed befindet sich tatsächlich in einem Dilemma, wenn eine starke Abkühlung der Wirtschaft - etwa durch eine Eskalation des Handelskonflikts - stärkere geldpolitische Maßnahmen nahelegt. So hat Luca Paolini, Chefstratege von Pictet Asset Management, kürzlich in Frankfurt nicht ausgeschlossen, dass es zu drastischen Zinssenkungen kommen könnte, falls die US-Wirtschaft in eine Rezession abgleitet.

Bloß ist mit einem Leitzins von 2,25 bis 2,50 Prozent der Spielraum nach unten für die Fed überschaubar. Das weiß sie selbst natürlich auch. Fed-Chef Jerome Powell hat auf einer Konferenz Anfang Juni in Chicago gesagt, es werde keine Überraschung mehr sein, wenn die Leitzinsen erneut einmal den unteren Rand ihrer Wirkungsfähigkeit - den sogenannten Effective Lower Bound (ELB) - erreichen. Die Fed müsse sich darauf einstellen, so Powell. Vereinfacht gesagt geht es um die Frage, was die Fed zu tun gedenkt, wenn die Leitzinsen die Grenze von 0 Prozent erreichen, ob Negativzinsen möglich wären oder ob sie andere Mittel nutzen würde, um die Wirtschaft zu stützen.

Anlass zur Sorge gibt auch die inverse US-Zinsstrukturkurve, die eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Rezession signalisiert - immerhin ist ja auch der Aufschwung, wenn er über Juni hinausgeht, der längste in der jüngeren Geschichte der USA. Über die Interpretation sind sich die Akteure aber nicht einig. Während für etliche Marktteilnehmer damit gesetzt ist, dass eine Rezession kommt - und damit die Wahrscheinlichkeit von Zinssenkungen, die über das hinausgehen, was am Markt eingepreist wird, hoch wäre -, gibt es auch anderslautende Einschätzungen.

Der versierte US-Investor Howard Marks etwa sieht die Ursache für die Inversion darin, dass die Fed die Zinsen am kurzen Ende erhöht hat, während gleichzeitig ein Kapitalüberschuss sowie ein hohes Sicherheitsbedürfnis der Anleger eine hohe Nachfrage nach langlaufenden Bonds erzeugt haben und damit die Renditen am langen Ende drückten. Marks weist auch auf den geringeren Kapitalbedarf im Informationszeitalter hin, etwa für Internetunternehmen, die weniger Schulden aufnehmen als kapitalintensivere Unternehmen etwa aus dem Industriesektor. "Ich verstehe nicht ganz, warum eine inverse Zinsstrukturkurve negativ sein soll", so Marks, "aber ich kann nicht beweisen, dass sie es nicht ist." Eine mögliche Auswirkung sei, dass Banken keine Fristentransformation mehr im Zinsgeschäft machen können.

Unabhängig davon, wie die inverse US-Zinskurve nun beurteilt wird: Dass die Notenbanken gezwungen sein dürften, die Zinsen zu senken oder sich gar neue Maßnahmen zu überlegen, ist durchaus wahrscheinlich. Abgesehen von US-Präsident Donald Trumps unberechenbarem Politikstil und dem Risiko eines Handelskriegs, der zu einer globalen Rezession führen könnte, sind auch die niedrigen Inflationserwartungen und die niedrigen Inflationsraten ein Problem.

Einmal außer Acht gelassen, dass eine militärische Konfrontation in der Golfregion zu einem Preisschock bei Treibstoffen führen würde, gibt es keine Anzeichen, dass die Kerninflationsrate in den Industrieländern steigen dürfte. "Es ist mysteriös, warum die Inflation heute so gering ist und ob es in Zukunft Inflation geben wird", schreibt Howard Marks in seinem aktuellen Memo. In Europa ist die Inflationserwartung gemessen an Fünf-Jahres-Inflations-Swaps kollabiert und auf ein Rekordtief von unter 1,2 Prozent gefallen, und auch in den USA gerät sie wieder ins Rutschen.

Dies in einem Umfeld, in dem die Wirtschaft noch wächst und die Arbeitslosigkeit moderat ist. Selbst in den USA, wo der Arbeitsmarkt als angespannt gilt, steigen die Löhne nur mäßig - was daran liegen könnte, dass der Anteil der Bevölkerung, die am Arbeitsmarkt teilnimmt, seit der Finanzkrise geschrumpft ist.

Auch wenn die vom Markt gehegte Erwartung von drei US-Zinssenkungen sportlich wirkt: Das Risiko eines Handelskriegs sowie die sinkenden Inflationserwartungen sprechen eher für weiter fallende Zinsen. Bis das rasant steigende US-Defizit sich inflationssteigernd auswirkt, dürften noch einige Jahre ins Land gehen. Das kümmert derzeit noch kaum jemanden.

Quelle: Börsen-Zeitung (ots) von Dietegen Müller

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