Leipziger Volkszeitung zur Steuerschätzung
Archivmeldung vom 02.11.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 02.11.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEin kleiner Schub durch die Konjunktur, ein wenig Entschlossenheit beim Sparen und ein Hauch Problembewusstsein genügen offenbar, um die Steuerkassen klingeln zu lassen. Es ist, als fiele Weihnachten und Ostern mit der Wiedervereinigung zusammen. Große Koalition heißt: große Illusionen.
Die Unternehmenssteuerreform ist ein Beleg dafür. 30 Milliarden Euro
werden bewegt, die Unternehmen um fünf Milliarden Euro, anfänglich,
entlastet. Da wird wieder einmal auf die Hoffnung als Prinzip
vertraut. Verkündet wird der Vollzug, nach gelungener Inszenierung,
freilich erst, nachdem im Bundestag die Probeabstimmungen zur
Gesundheitsreform geschafft waren. Sonst hätte die Linke zu sehr
gemault. So entstehen mit dieser Koalition auch immer neue
Lebenslügen.
Darf es also ein bisschen mehr sein - für das Not leidende Berlin,
für die maroden Sozialkassen, für Auslandseinsätze der Bundeswehr
oder für Arbeitslose erster Klasse? Wer jetzt nichts fordert, der ist
von gestern. Na, wenn das so ist, dann kann die große Koalition
gleich ihren Dienst quittieren.
Die Kanzlerin möchte doch noch, über die Hintertür, ein paar
Steuermilliarden zu den Krankenkassen umleiten. Das klingt sehr
sozial. Aber gerade werden den Kassen Gelder aus der (Tabak-)Steuer
entzogen. Merkels Vize Rüttgers verwechselt derweil mit der
Kehrt-Reform-Wende beim Arbeitslosengeld I sozial mit konfus.
Der SPD-Vorsitzende will, als Länderchef, mehr Steuergeld für die
Hartz-IV-Unterbringungskosten als sein Partei-Vize, der
Bundesfinanzminister sowie Merkels Vize Müntefering bereit sind, zu
geben. Deshalb nimmt er nicht am Koalitionsgipfel zur Verteilung der
neuen Steuermilliarden teil, aber trotzdem leitet er das
entsprechende SPD-Vorgespräch. Alles nur Theater? Beck will auch
Auslandseinsätze der Bundeswehr finanziell aufrüsten. Das ist
verwirrend, weil die SPDdie Truppe bisher als Sparschwein betrachtete
und weil eher die Union bis dato so redete.
Im schleswig-holsteinischen Eddelak löst sich zum Jahresende der
SPD-Ortsverein auf. Aus Protest gegen die große Koalition und wegen
der Ratlosigkeit, dass "die da unten" nicht mehr verstehen, "was die
da oben" tun und lassen. Das ist natürlich keine Lösung. Aber
aufpassen muss die große Koalition schon, wenn sie, wie jetzt, den
Eindruck erweckt, sie habe die Arbeit getan, weil die Steuern
sprudeln.
Tatsache bleibt, dass im Vergleich zu den regulären Einnahmen
strukturell viel zu viel ausgegeben wird. Die Koalitionäre sollten
nicht auf den Gedanken verfallen, Reformen von heute bestünden darin,
die Reformen von gestern zurückzunehmen. Die Bürger haben vielleicht
kein Anrecht, von allen immer gut regiert zu werden. Sie können aber
per Abwahl abstrafen. Doch sie sollten den Eindruck haben, die
Beteiligten bemühten sich jederzeit um Wahrheit und Klarheit in der
Sache. Sonst zerbricht der Zusammenhalt, zur Freude einiger
Rattenfänger. Der Staat ist trotz kurzfristigen Geldsegens nicht am
Wendepunkt, es gibt keinen bequemen Weg aus dem Kassen-Elend direkt
rein ins Schlaraffenland.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung