Absurde Zahlenspiele
Archivmeldung vom 19.07.2014
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittKürzlich erfuhr man, dass die US-Wirtschaft im ersten Quartal des laufenden Jahres um satte 2,9 Prozent schrumpfte und nicht, wie anfänglich erwartet worden war, um nur einen Prozentpunkt. Das ganze tauchte natürlich nur ganz kurz auf den Schirmen der öffentlichen Wahrnehmung auf, der Fokus der Öffentlichkeit lag in den vergangenen fünf Wochen schließlich auf wichtigeren Dingen als dem deutlichen Einbruch des Wirtschaftswachstums der wichtigsten Volkswirtschaft der Welt.
Die Wenigen, die sich dennoch dafür interessierten, erfuhren bei näherem Nachforschen erstaunliches. Die große Diskrepanz zwischen dem erwarteten und dem tatsächlichen Wert wurde nämlich damit erklärt, dass das US-Statistikamt nicht versuchte, die Prognosen zur Wirtschaftsentwicklung in den USA, sich mittels der Extrapolation aller vorhandenen Daten möglichst genau anzunähern, sondern die Entwicklung wurde ganz einfach...geschätzt.
Das klingt zwar so, als würden sich Statistiker Bill und Statistiker Joe nachmittags beim Kaffee auf eine gemeinsame Verlautbarung einigen, dürfte tatsächlich aber eher politisch gelenkt werden. Die Entwicklung – zumindest der grobe Trend – dürfte sehr wohl bekannt gewesen sein, muss aber noch den politischen Erfordernissen angepasst werden: Wäre im Dezember 2013 die Erwartung eines deutlichen Wirtschaftseinbruchs in den USA veröffentlicht worden, so hätte das die Haltung der Fed-Vorsitzenden Yellen bezüglich dem Tapering-Programm und natürlich den Optimismus des Präsidenten konterkariert, außerdem hätten sich die Bürger vermutlich beim Weihnachtsshopping zurückgehalten. Sechs Monate später kann man den Einbruch dann auf Einmal-Faktoren schieben und ansonsten darauf setzen, dass die Öffentlichkeit Zahlen der Vergangenheit nur noch marginal interessieren.
Ohnehin wird mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) schon seit Jahren massiv Schindluder getrieben. Als banales Beispiel sei nur die hedonische Berechnung des BIP-Deflators genannt – hierdurch sollen angenommene Qualitätssteigerungen sichtbar gemacht werden. Der für die Politik äußerst angenehme Nebeneffekt ist ein deutlich gesteigertes Wirtschaftswachstum und damit auch ein höherer Ausweis des BIP.
Der enorme politische Einfluss auf die Berechnung der wichtigsten Kennziffer erklärt sich damit, dass sie in der Öffentlichkeit als Sinnbild für die Prosperität eines Landes wahrgenommen wird. Wer verkünden kann, dass die Wirtschaft statistisch gewachsen ist, dessen Chance für die Wiederwahl wachsen ebenfalls. Zudem ist das BIP die entscheidende Referenz für Haushaltsdefizite und Schuldentragfähigkeit eines Landes. Über den sich implizit darin widerspiegelnden Anspruch des Staates auf die komplette Arbeitsleistung seiner Bürger, darf man zu Recht erschrecken. Auch mag man sich fragen, ob es nicht sinnvoller wäre als Referenz beispielsweise die Steuereinnahmen heranzuziehen, dann aber würden wir nicht über Schuldenquoten von 80 bis 100 Prozent diskutieren, sondern über durchschnittlich mehrere hundert Prozent, im Falle von Griechenland sicherlich über einige tausend Prozent Staatsverschuldung.
Da dann allerdings die allermeisten Staaten dies- und jenseits des Atlantiks schon längst den Bankrott hätten erklären müssen, wird das BIP weiterhin die entscheidende Referenzzahl bleiben. Mit wachsender Staatsverschuldung und einer kaum existenten wirtschaftlichen Erholung werden auch die Blüten, die die Berechung des BIP treibt, immer kurioser:
Was in den USA schon längst gang und gäbe ist, wird in der EU ab dem 1. September 2014 für alle Mitgliedstaaten verpflichtend: Die Schattenwirtschaft fließt in die Berechnung des BIP ein. Da nur leider die wenigsten Drogendealer ihre Quartalszahlen veröffentlichen und die Erträge von Schwarzarbeit ebenso wenig in der jährlichen Steuererklärung auftauchen, werden die Zahlen – man ahnt es – geschätzt. Zwar wird damit nicht ein Cent mehr in das Staatssäckel gespült werden, schließlich ist das Merkmal der Schattenwirtschaft schlechthin, dass sie sich der Besteuerung entzieht. Aber die Zahlen sehen so unbestritten besser aus. Zudem fühlt sich vielleicht dann auch der ein oder andere, während er sich einen Joint rollt oder eine Prostituierte besucht, besser dabei. Schließlich trägt er so etwas zum Wirtschaftswachstum bei.
Aber damit nicht genug: Forschung wird in Zukunft nicht mehr als Vorleistung abgeschrieben, sondern als Investition gutgeschrieben. Die sich geradezu aufdrängende Frage, ob wirklich jede Art von Forschung wirtschaftlich lohnend sei, darf angesichts von Cargokult-Wissenschaften getrost verneint werden – nicht einmal Erkenntnisgewinn kann jede Forschung garantieren. Zudem scheint es niemanden zu interessieren, dass die vermeintlichen Investitionen des Staates ja zuvor von jemand anderem geleistet worden sein müssen. Schließlich muss jeder Euro, den der Staat ausgibt, zuvor entweder den Bürgern via Steuern abgenommen bzw. künftigen Generationen via Schulden aufgelastet werden.
Von solchen Gedanken völlig frei ist sicherlich jeder, der auch Waffensysteme als Investitionen ansieht. Diese Einordnung von Rüstungsgütern ist zwar völlig absurd, aber von nun Gebot der EU. Damit wäre immerhin auch erklärt, weshalb nun Teile der politischen Klasse inklusive des Bundespräsidenten so heiß auf militärische Interventionen sind: Wirtschaftswachstum heißt das Zauberwort. Insbesondere wenn man bedenkt, dass die angeschafften Kriegsinstrumente sich im Ernstfall doppelt auszahlen. Schließlich müssen dann die Zerstörungen, die sie anrichten, wieder behoben und die zerbombte Infrastruktur wieder aufgebaut werden. So tragen die gekauften Bomben, Raketen und Panzer ein zweites Mal zum Wachstum des BIP bei. Zu glauben, dass so der Wohlstand der Bevölkerung wachsen würde, ist zwar hahnebüchener Unsinn, aber aus mathematisch-statistischer Sicht durchaus korrekt. Bei solchen Rechnungen ist es eigentlich nur verwunderlich, dass in Brüssel noch niemand auf die Idee kam, den Griechen zur Steigerung des BIP einen kleinen Kriegszug zu empfehlen – am besten im eigenen Land.
Apropos Griechenland – die Hellenen haben die wunderbare Welt absurder Berechnungsmethoden schon früher entdeckt. Im Jahr 2006 schon kamen sie auf die Idee ihr BIP um 25 Prozent zu erhöhen. Schließlich betrage, so schätzte(!) die damalige Regierung, die Schattenwirtschaft am Peleponnes in etwa denselben Wert. Die EU-Kommission konnte dem damals nur bedingt zu stimmen. Schließlich war die Krise der Eurozone noch nicht offen zu Tage getreten, Haushaltsdefizite und Schuldenstände waren zwar hoch, aber irgendwie noch einigermaßen im Rahmen der EU-Verträge. Man einigte sich schließlich auf ein außerordentliches Wachstum
von 9,6 Prozent. Der weitere Verlauf bestätigte dann das schöne Bonmot der Philosophin Ayn Rand: „Man kann die Realität ignorieren, aber man kann nicht die Konsequenzen der ignorierten Realität ignorieren.“ Der griechische Staatsbankrott kam trotz all der schönen Statistiktricks, nur vielleicht etwas später.
Quelle: Freitagsgedanken, 11. Juli 2014, von Dagmar Metzger, Steffen Schäfer und Christian Bayer