"Wir haben am Morgen, am Abend und in der Nacht gelogen", sagte der Sozialist Ferenc Gyurcsány in Budapest in vertraulicher Sitzung. Ungarische Nationalisten und Hooligans haben die Veröffentlichung dieses Zitats als Vorwand für gewalttätige Ausschreitungen genutzt. Der Ministerpräsident hat ungewollt einen Topos der Rechtsextremen bedient. Ein Vorurteil, mit dem auch hierzulande Wahlkampf gemacht wird. Man desavouiert alle Politik als Lüge, um dann selbst Politik zu machen mit der ganz großen Lüge, Ausländer raus und schon gebe es Arbeit.
Was ist Wahrheit, was Lüge? Lessing meinte: "Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen." Wo es auf Erden eine absolute Wahrheit gibt, dort ist Diktatur. Tatsächlich wollen die, die so allgemein von den Lügen der Politiker reden, nichts anderes als den starken Staat, der alles einfach macht. Außer für jene, die anderer Meinung sind.
Politiker glauben, was sie sagen. Sie wollen daran glauben. Vor allem wollen sie den Wählern glauben machen, dass ihre jeweilige Wahrheit ausreiche, um das Land zu regieren. Politiker messen Wahrheit in Relation zu der Wahrheit der Konkurrenz, die auch regieren will. Die Wähler können all die verschiedenen Botschaften mit ihrer eigenen Erfahrung vergleichen. Sie können frei entscheiden, wem sie glauben wollen.
Aber die Wähler wollen nicht jede Wahrheit hören. Seit wie vielen Jahren wissen wir von der Überalterung unserer Gesellschaft, seit wie vielen Jahren vom Schwund unserer industriellen Konkurrenzfähigkeit? Und dennoch würde nie gewählt, wer uns sagte, dass das weniger Rente, höhere Beiträge, längere Arbeitszeit, weniger Lohn bedeutet. Politik ist ein kompliziertes Ringen zwischen wirklicher Wirklichkeit, die keiner kennt, und gewünschter Realität, von der es so viele gibt. Aber besser so als anders. Wenn einer den Bogen der politischen Lüge, die wir besser Selbsttäuschung, Teilwahrheit oder Schönrednerei nennen wollen, überspannt, wird er dafür bei der nächsten Wahl seine Quittung bekommen. Es sei denn, die Wähler wollten es gnädig vergessen.

Quelle: Pressemitteilung Lausitzer Rundschau