Leipziger Volkszeitung zu Bundestags-Beschlüssen
Archivmeldung vom 30.06.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittUngewöhnliche Ereignisse erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Wenn heute in Berlin die Klinsmann-Elf bei der WM um den Einzug ins Halbfinale kämpft, wird die Politik auf Sparflamme kochen. Zeitgleich zum Prestige-Duell mit Argentinien wichtige Abstimmungen im Bundestag?
Bloß nicht, das ersparen sich die Volksvertreter - mit der
Koalition vornweg - dann doch lieber. Also lieber eine Mammutsitzung
bis in die Morgenstunden und im Schnelldurchgang neue Spargesetze
durchgepeitscht.
Ganz gleich, wie das heutige Match ausgeht: Die WM-Stimmung wird
nicht völlig in den Keller sacken. Feiern bis zum Abwinken, zumindest
bis zum Endspiel am 9. Juli. Erst danach kommt der große Kater. Nicht
wegen des Fußball-Entzugs. Die Gewöhnung an den Alltag wird sicher
schnell vonstatten gehen. Zumindest flotter als die Gewöhnung an die
neuen Belastungen, die ab 2007 auf die Steuerzahler zukommen. Da
droht vielen, die jetzt noch gut gelaunt auf der
WM-Begeisterungswelle surfen, das böse Erwachen.
Einschnitte bei der Pendlerpauschale, Halbierung des Zinsfreibetrags
für Sparer, Kürzung der Bezugsdauer des Kindergeldes: Das von der
Koalition als alternativlos hingestellte Steueränderungsgesetz ist in
Wahrheit ein stupides Schröpfen der Bürger. Das Anheben der
Mehrwertsteuer ebenfalls ab Januar 2007 macht die
Steuererhöhungsorgie perfekt. Wie unter diesen Umständen das zaghafte
Anspringen der Binnenkonjunktur nicht gleich wieder abrupt abgewürgt
werden soll, bleibt das Geheimnis der Koalition.
Über die schwarz-rote Lethargie täuscht auch der gestrige
parlamentarische Schnelldurchlauf nicht hinweg.
Linkspartei-Fraktionschef Gysi bringt es auf den Punkt: Wer viel Zeit
bei den notwendigen Reformen vertrödelt hat, muss es am Ende mit
einem Gewaltritt hinbiegen. Außerdem passt es noch ganz gut, dass
König Fußball die Aufmerksamkeit in diesen Tagen fast komplett auf
sich zieht. So hält sich der Aufschrei in Grenzen.
Für die SPD gibt es außerdem ein schönes fiskalisches Feigenblatt.
Der Spitzensteuersatz, der für Topverdiener von 42 auf 45 Prozent
klettert, lässt sich gut zur Ruhigstellung der eigenen Wählerschaft
ins Feld führen. Die Union muss dagegen mittlerweile aufpassen, dass
sie ihre Klientel nicht zur Fahnenflucht zwingt. Zu viele dicke
Kröten mussten bislang vor allem ihre wirtschaftsnahen Anhänger
schlucken. Das im Wahlkampf noch groß angekündigte Gesamt-Reformwerk
zerbröselt in halbherzige Reförmchen. Die richtungslose Suche nach
der Finanzierung für die Gesundheitsreform spricht Bände. Lange kann
sich das die Kanzlerin, die mit dem Machtanspruch antrat, es besser
als die Vorgänger-Regierung zu machen, nicht mehr leisten.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung