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Seit 30 Jahren bestimmt Joseph Ratzinger wesentlich den Kurs der Weltkirche

Archivmeldung vom 19.11.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.11.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Am 25. November 1981 wurde Joseph Kardinal Ratzinger, der jetzige Papst Benedikt XVI., von Johannes Paul II. zum Präfekten der römischen Kongregation für die Glaubenslehre ernannt. In diesen 30 Jahren hat der deutsche Theologe so lange und durchgreifend wie nur sehr wenige in der Kirchengeschichte den Kurs der römisch-katholischen Weltkirche im Vatikan mitgeprägt und verantwortet: Mehr als 23 Jahre in der Glaubenskongregation (der Nachfolgeorganisation der 1542 gegründeten „Kongregation der römischen und allgemeinen Inquisition“) und seit sechseinhalb Jahren als Papst.

Nicht vergessen und an den Auswirkungen nach wie vor deutlich spürbar ist, wie sehr Ratzinger zwischen 1981 und 2005 als Präfekt der römischen Glaubenskongregation Lehrverbote ausgesprochen, die Theologie der Befreiung verurteilt, Frauen in der Kirche ausgegrenzt, die Ökumene mit den Kirchen der Reformation gebremst und selber lange zur Vertuschung des sexuellen Missbrauchs beigetragen hat. Dies steht in einer Linie mit zahlreichen weiteren von ihm beeinflussten Entscheidungen wie z. B. der Synoden-Instruktion (1997), der Laien-Instruktion (1997), der Erklärung „Dominus Iesus“ (2000), dem Vatikan-Papier gegen homosexuelle Lebensgemeinschaften (2003) und auch dem Vorgehen gegen Reformbewegungen wie die KirchenVolksBewegung. Die deutsche Kirche wurde durch seine anhaltenden Interventionen gegen die Schwangerschaftskonfliktberatung vor eine schwere Zerreißprobe gestellt. Die Liste der von ihm gemaßregelten und eingeschüchterten Theologen und Theologinnen in aller Welt ist lang (siehe Anlage) und hat zu einem permanenten Klima der innerkirchlichen Angst und Erstarrung geführt.

Nach seiner Wahl zum Papst am 19. April 2005 hatte sich, auch unter dem Einfluss der Medien, sein öffentliches Erscheinungsbild zunächst gewandelt. Doch die Hoffnungen, Joseph Ratzinger werde als Papst – dem Titel „Pontifex maximus“ („Brückenbauer“) entsprechend – sein Verhalten ändern, haben sich nicht erfüllt. Das Gegenteil ist eingetreten.

Ratzinger, der immer wieder die „Diktatur des Relativismus“ beklagt, betreibt selber seit Langem die Relativierung des Zweiten Vatikanischen Konzils, vor allem durch die völlige Freigabe des vorkonziliaren Tridentinischen Ritus (2007, entgegen den Empfehlungen der weltweiten Bischofs-Synode 2005), durch seine Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte zur Bekehrung der Juden (2008) und schließlich durch die äußerst problematische Rehabilitation der Priesterbruderschaft Pius X. im Januar 2009. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der Piusbruderschaft mag für Ratzinger auch ein persönliches Trauma sein, hatte er sich doch im Auftrag von Papst Johannes Paul II. seit 1988 mit deren Gründer Erzbischof Marcel Lefebvre um eine Wiedereingliederung bemüht. Diese ist ihm aber trotz aller äußerst fragwürdigen vatikanischen Zugeständnisse bis heute nicht gelungen.

Die römisch-katholische Kirche befindet sind in der tiefsten Krise seit der Reformation. Die Aufdeckung der jahrzehntelangen Vertuschung der weltweiten Missbrauchsskandale ist nicht die einzige Ursache dafür, hat aber die Krise des klerikalen Systems offenbar werden lassen. Die Tragödie Ratzingers ist es, dass er zu spät und zu zögerlich mit der schonungslosen Aufarbeitung der Missbrauchs-Skandale begonnen hat. Und er wird von der römischen Kurie sowie von den Kardinälen und Bischöfen nicht hinreichend unterstützt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er als Präfekt der Glaubenskongregation noch im Jahr 2001 alle Bischöfe unter Strafandrohung dazu aufgefordert hatte, sexuelle Straftaten von Klerikern an Minderjährigen möglichst geheim zu halten und allein die Glaubenskongregation darüber zu informieren.

Nicht die Säkularisierung, sondern Joseph Ratzinger trägt einen großen Teil der Verantwortung, dass die Kirche in vielen Bereichen gescheitert ist, den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Immer wieder zeigte er sich taub für die Anliegen, die ihm von Bischöfen, Theologen und vielen „Laien“ aus der ganzen Welt vorgelegt wurden. Besonders der Theologie der Befreiung trat er mit Misstrauen und Feindseligkeit entgegen. Die Jahre seiner Amtszeit in Rom enthüllen mehr und mehr die grundlegende Schwäche des ganzen Systems der römisch-katholischen Kirche: ihre autokratisch-monarchische Verfassung, ihre „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ von Priestern und „Laien“ sowie den in den letzten Jahren stark angewachsenen römischen Zentralismus, der den Ortskirchen kaum mehr eine Eigenverantwortung zugesteht.

Der wesentlich von ihm verfasste und redigierte „Katechismus der katholischen Kirche“ (1993) und das von ihm als Papst approbierte und promulgierte (d.h. feierlich anerkannte und veröffentlichte) „Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche“ (2005) werden den Anforderungen der modernen Theologie in keiner Weise gerecht. Die Instruktion „Homosexualität und Weiheamt” war eines der ersten von ihm als Papst approbierten Dokumente zur Ausgrenzung homosexueller Männer vom priesterlichen Dienst. Die weite Verbreitung des Jugendkatechismus „Youcat“ (2011) und die Verkaufserfolge seiner zahlreichen Bücher können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lehre der katholischen Kirche heute nur noch von wenigen Menschen als Orientierung verstanden und befolgt wird, wie Studien und Umfragen immer wieder zeigen.

Die immer lauter werdende weltweite Kritik an seinem Pontifikat sollte Papst Benedikt als Ausdruck der tiefen Besorgnis der Gläubigen um das Wohlergehen der ganzen Kirche verstehen. Denn das Kirchenrecht sagt in Can. 212 § 3 CIC: "Entsprechend ihrem Wissen, ihrer Zuständigkeit und ihrer hervorragenden Stellung haben sie (d.h. die Gläubigen) das Recht und bisweilen sogar die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, den geistlichen Hirten mitzuteilen (...)."

Die Menschheit hat inzwischen ein waches Gespür für die zahllosen Ungerechtigkeiten in der Welt entwickelt. Die katholische Kirche könnte und müsste durch ihre weltweite Verbreitung einen positiven Einfluss auf künftige Lebensbedingungen nehmen. Es wäre ein Gebot der Stunde, sich von manchen überkommenen, nicht mehr lebensdienlichen Leitungsstrukturen zu verabschieden und sich nicht ängstlich an die angeblich von Jesus eingesetzte hierarchische Verfassung zu klammern: „Ihr sollt niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer: Christus“ (Mt 23,9 f.).

Quelle: Wir sind Kirche

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