„Ach, wie gut, dass niemand weiß ...“ - Die Märchen kommen zurück
Archivmeldung vom 14.09.2012
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSchneewittchen lebt! – Und zwar in den USA, gemeinsam mit der ganzen anderen Märchenclique. Wieso und warum, davon handelt die Fernsehserie „Once upon a time“ („Es war einmal“), die nun auch in Deutschland bei „superRTL“ angelaufen ist. Dabei bleibt die Frage, warum man nicht den Titel übersetzt hat, zunächst ebenso unbeantwortet wie die Frage nach dem eigenartigen Schicksal der märchenhaften Charaktere. Und um den Bösewicht zu zitieren, dessen Namen jeder kennt, der aber trotzdem nicht genannt werden darf: „Ach, wie gut, dass niemand weiß ...“
Den Motivschatz der Märchen auszubeuten, ist nicht wirklich neu, aber gerade wieder modern. Nachdem eben auf der großen Leinwand Schneewittchen in „Snow White and the Huntsmen“ zur Amazone mutierte und - dem Vorbild von Shreks geliebter Fiona folgend - zeigte, dass sie mehr als nur märchenhaft schön sein kann, ist nun also auch der (noch) kleinere Bildschirm in der heimischen guten Stube reif für das gesamte Grimm'sche und oft genug grimmige Aufgebot an ganz, ganz guten und ganz, ganz bösen Charakteren.
Wenn man es genau betrachtet, waren die Märchen eigentlich nie „weg“. Da sie in ihrem Ursprung als Volkserzählungen (für Erwachsene, nicht für Kinder) mit dem sozialen Auftrag verbunden waren, bestimmte moralische Standards und Verhaltensnormen zu transportieren, sind sie in ihren Konstruktionen und teilweise auch in ihren Aussagen nach wie vor aktuell. Denn die Menschen haben sich nicht wirklich verändert, noch immer erfreuen sie sich an oder hadern mit ihren guten und schlechten Eigenschaften, mit Liebe, Brüderlichkeit, Edelmut und Solidarität auf der einen, mit Gier, Eigensucht, Bosheit und Neid auf der anderen Seite.
So wie die wahren Bühnenklassiker deshalb zeitlos sind, weil sie ihre Konflikte aus einer kritischen Betrachtung der menschlichen Natur ableiten, so bleiben auch Märchen im Kern aktuell, weil sie sich in anderer Art mit dem Menschlichen und Allzumenschlichen befassen. Und somit können sie immer wieder Inspiration bieten für alle Formen der Kunst. Und hierzu gehört auch der Film – oder zumindest kann er dazugehören.
Den letzten wirklich großen und sicherlich auch erfolgreichsten Griff in die Märchenkiste tat seinerzeit George Lucas mit seinem „Krieg der Sterne“-Epos. Dabei verlegte er das Märchenreich einfach in die Zukunft, was es ihm ermöglichte, sich gleichzeitig von den Märchenmotive zumindest dem Anschein nach zu distanzieren, um sie tatsächlich umso unverdünnter für seine Handlung nutzen zu können.
Filme wie die bereits zitierte Adaption des Schneewittchen-Stoffes gebrauchen die phantastische Kulisse des Märchens als Alibi für Action-Szenen und Spezialeffekte und kehren damit sozusagen die Märchen von innen nach außen: ist im Märchen die Handlung nur ein Transportmittel der eigentlichen Aussage, das ihr Aufmerksamkeit und Erinnerungswert sichert, wird in solchen Filmen die Aussage zum Vehikel für Fantasy- und Schlachtengetümmel, zur Rechtfertigung für 90 oder mehr Minuten an „Action“. Die Form siegt über den Inhalt, das konsumierende Zuschauen über die Reflexion. Das mag man bedauern und beklagen oder schlichtweg schulterzuckend hinnehmen mit der Freude an beeindruckenden Bildern und guter Unterhaltung. Letztlich wird es immer den Unterschied geben zwischen den Bildern im eigenen Kopf und der Wirkung der Worte und dem Betrachten von Inszenierungen der Phantasie anderer Menschen.
Tatsächlich ist für jene, die noch in der Lage sind, eigene Filme vor dem vielzitierten geistigen Auge zu erzeugen, für jene, die Spaß am Lesen haben, das Märchen in seinen vielfältigen Verkleidungen vielleicht sogar interessanter, wie nicht zuletzt der weltweite Erfolg von Joanne K. Rowling und ihren Harry-Potter-Büchern zeigt. Denn natürlich finden sich auch hier genügend Inspirationen aus Märchen, Mythen und ihren diversen literarischen Umsetzungen.
Dass man Märchen in ihrer ursprünglichen Form als Geschichten durchaus ernst nehmen und ebenso phantasievoll wie erfolgreich neu interpretieren kann, ohne sich zu weit aus ihrem ursprünglichen Handlungsrahmen zu entfernen, zeigen Erzählungen wie „Die Rose des Maledito“ des Marburger Autors Thorsten Kroll.
Wie bereits der Untertitel seines Buchs „Die Legende von der Schönen und dem Biest“ verrät, hat er sich dieses aus dem Französischen stammenden Märchens angenommen, das bereits Künstler wie Jean Cocteau inspirierte.
Nur hat Kroll die Geschichte konsequent durchdacht und beantwortet in seiner Fassung eine Reihe von Fragen, die zuvor immer offen geblieben waren – und er hat der Handlung einen überraschenden neuen Schluss gegeben, der nicht nur der inneren Logik seiner Erzählung gerecht wird, sondern auch der moralischen Kernaussage des Märchens durchaus entspricht.
Dabei ist seine Fassung, auch ganz der eigentlichen Tradition der Märchen folgend, für Erwachsene gedacht, nicht für Kinder.
Womit sich der Kreis schließt, denn auch die Adaptionen von Märchenstoffen und -motiven, die Film und Fernsehen anbieten, sind nicht für die Kleinen gedacht. Und auch wenn man sich über diese Medienereignisse heute nicht mehr in Spinnstuben unterhält, so geben sie doch Anlass zum Gespräch … mögen die Inhalte dieser Dialoge auch anders sein als früher und in anderer Weise geführt werden – nicht zuletzt hier, im Internet.