WAZ: Schwarz-Grün in Hamburg
Archivmeldung vom 19.04.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.04.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittJedem Anfang wohnt ein Zauber inne. In Hamburg wirkte er besonders zauberhaft, weil besonders verfeindete Parteien sich vertragen haben und miteinander regieren, was neue Machtoptionen und exotische Fantasien befördert. Man könnte das postideologische Zeitalter der pragmatischen Politik anbrechen sehen, das die Parteiendemokratie in eine Vernunftsdemokratie erhebt.
Wenn Moorburg nicht wäre. Das erste Projekt der ersten schwarz-grünen Koalition ist bereits umgesetzt. Das Kohlekraftwerk in Moorburg bleibt eine Baustelle. Mit einigen Tricks haben die Koalitionäre eine endgültige Entscheidung auf die Zeit nach ihrer Regierung vertagt. Für Vattenfall bedeutet das Planungsunsicherheit, was mancher nur bedingt bedauern wird. Aber Moorburg spiegelt, und das muss man unbedingt bedauern, beispielhaft eine Planungsunsicherheit für die ganze Republik. Keine Einigung, vertagt. Nach diesem Prinzip verfährt die Große Koalition andauernd. Atomausstieg, Steuerreform, Gesundheitsreform, Bahnprivatisierung - keine Einigung, vertagt oder portionsweise vertagt. Zynisch formuliert sind das Zukunftsprojekte; sie haben erst dann eine erkennbare Zukunft, wenn Wähler wieder eine klare Lagermehrheit schaffen. Bis dahin wird man mit Deutungen gefoltert. SPD: Mehr war mit der Union nicht drin. Union: Wir haben Schlimmeres gegen die SPD verhindert. Und umgekehrt. Schwarz-Grün erweitert bloß das Vokabular. Mehr war mit den Grünen.
In Hamburg zeigt sich zudem einmal mehr, wie verschlungen
lagerübergreifende Politik funktioniert, wenn tatsächlich Einigung
gelingt. Die CDU vertieft die Elbe, dafür verlängern die Grünen die
Grundschulzeit um zwei Jahre. Bei der nächsten Wahl droht Hamburgern
bei vertiefter Elbe ein neues Schulmodell, weil die CDU nur um der
Machtoption willen ihre Vorbehalte verbirgt und weiter von
Schwarz-Gelb träumt. Wähler haben kaum noch die Chance zu ahnen, für
welche aktive Politik sie stimmen. Grob berechnen können sie nur die
passive Politik, also das, was in bestimmten Konstellationen vertagt
wird.
Auch der Zauber des Anfangs der Großen Koalition bestand in der
Entideologisierung der Volksparteien. Doch was als pragmatische
Politik versprochen wurde, erweist sich als Täuschung. Erfunden wurde
die Vertagungsdemokratie, weil die Volksparteien sich im Widerstand
gegeneinander profilieren, von anderen Mehrheiten träumen und die
grundsätzliche Frage ignorieren: Was muss für Bürger auf Jahre
verlässlich gestaltet werden?
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Angela Gareis)