Leipziger Volkszeitung zu Koalitionsvertrag
Archivmeldung vom 12.11.2005
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittZwei von drei Bürgern halten die Erhöhung der Mehrwertsteuer für falsch, aber vier von fünf finden die "Reichensteuer" völlig richtig. Eine verrückte Welt, die die Demoskopen ermitteln.Die Option auf gestaltende Politik wird abgelehnt, ein ineffektives ideologisches Steuerungsmittel gelobt. Ginge es nach der gefühlten Politik, so wäre das Urteil über die neue Regierung noch vor Dienstantritt gefällt:Weg damit!
Die Undurchschaubarkeit des Systems muss geknackt werden. Aber was
ist geschehen?Mit einem 25 Milliarden Investitionsprogramm wird ein
Papiertiger präsentiert, als ob die Bürger noch immer an
Politikerversprechen glaubten. Es wird vom "Heulen und Zähneklappern"
geredet - als ob Politik eine Art Kettensägen-Massaker wäre - und
heraus kommt für 2006 der größte Schuldenetat aller Zeiten.
Der Steuerstreit ist nur eines von zahlreichen Missverständnissen,
die diese Großkoalition von Anfang an verfolgen. Irrtümer beim
Personal, falsche Sach-Prioritäten, prinzipielles Misstrauen zwischen
den Beteiligten. Als Krönung ein Koalitionsvertrag, der Lösungen für
die dicksten Probleme vorgaukelt, der in erster Linie durch seinen
dicken Umfang beeindruckt. Dabei ist die Sache mit dem Regieren von
CDU/CSUund SPDrelativ einfach.Merkel musste Kanzlerin werden,
andernfalls wäre sie weg vom Fenster gewesen. Also rutschte ziemlich
viel Bockmist ins Regierungsprogramm. Die SPDmusste in der Regierung
bleiben, um vielleicht irgendwann an der Union vorbei zu ziehen. Also
wurde einiger Bockmist akzeptiert.
Das größte denkbare politische Bündnis aus Union und SPDmit der
einprägsamsten Kanzler-Erneuerung - eine Frau, aus dem Osten, ohne
erkennbares System - ist dabei, ganz kleine Brötchen zu backen. Das
Maß des schlechten Gewissens, das Union und SPDangesichts ihrer
Versprechen vor der Wahl und ihrer pragmatischen Beschränkung
hinterher mit diesem Vertrag verbindet, wird sich bei den Parteitagen
zeigen. Je größer die Zustimmung, desto kleiner die Erwartung.
Wo bleibt das Politische dieser Notgemeinschaft? Es fehlt ja nicht
nur die verbindende Überschrift. Die vor der Wahl genannten
Schwerpunkte sind nur ganz verschwiemelt im Koalitionsvertrag
verpackt: Wo verbirgt sich die dramatische Wende in der
Bildungspolitik?Wo erfolgt die alles bündelnde Initiative zur
Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit?Wo steckt die Kraftprobe, die
überforderten Sozialsysteme mit einer zukunftsfesten Statik zu
versehen?Die Erhöhung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung ab
2007 ist das denkbar größte Armutszeichen. Statt eindrucksvoller
Politik, droht den Regierten ein politisches Geplänkel, wohl
austariert zwischen Roten und Schwarzen, zwischen Kanzler und Vize,
zwischen Steuererhöhung und Sparversuchen. Eine echte Chance hat
diese Regierung nur, wenn sie sich in der Praxis von dem Verdacht
befreit, ein Kartell der Mittelmäßigkeit sei gut genug für dieses
Land.
Quelle: Presemitteilung Leipziger Volkszeitung