WAZ: Zum 11. September 2001: Bush hältden Schrecken wach
Archivmeldung vom 11.09.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEin Schock waren die Anschläge vom 11. September 2001 überall in der Welt, doch das unmittelbare Gefühl, angegriffen worden zu sein, gab es nur in den USA selbst. Dass auch die meisten Amerikaner die Anschläge nur als Fernsehereignis erlebt haben, spielt dabei keine Rolle.
Es war ein Anschlag auf das amerikanische Herz,
wie ihn die USA nie zuvor erlebt hatten. Und so ist er noch in den
Weiten des Mittleren Westens und an der fernen Pazifikküste empfunden
worden.
Klar lässt sich zunächst nur sagen, dass die Verarbeitung der
Anschläge in diesen fünf Jahren in Europa und den USA ganz
verschieden verlaufen ist. In Europa folgte auf die historische
Schrecksekunde eine lange Debatte über die Ursachen des Terrorismus,
über die Rolle, die die USA in der Weltpolitik spielen, über die
Auseinandersetzung mit dem Islamismus und die nötige Neubestimmung
einer westlichen Gegenkultur. Es war und ist eine zutiefst politische
Debatte. In den USA ist die Auseinandersetzung mit den Anschlägen
psychologischer Natur. Der Terror hat dabei nicht nur eine
hysterische Angst entfesselt, sondern - unter der Oberfläche eines
fahnenschwenkenden Trotzpatriotismus - tiefgreifend das amerikanische
Selbstwertgefühl erschüttert. Warum hassen uns so viele Menschen in
der Welt? Warum will jemand die amerikanische Kultur, die doch für
Freiheit und Gerechtigkeit steht, angreifen und zerstören?
Überdeckt wird dieser Befund von einer dröhnenden Rhetorik, die
versucht, Kapital aus der neuen Befindlichkeit zu schlagen. So konnte
Bush den Amerikanern einreden, dass man sich in einem dauerhaften
Krieg mit den Terroristen befindet, dass man diesen Krieg auch im
Irak führen muss und dass man den Terrorismus bekämpfen muss wie
einst Hitler-Deutschland. Das ist nicht nur politisch fragwürdig, es
verhindert auch die seelische Heilung eines traumatisierten Volkes.
Denn diese politische Rhetorik braucht den 11. September und seinen
Schrecken. Sie muss ihn lebendig halten.
Ein erster emotionaler Distanzgewinn ist fünf Jahre später dennoch feststellbar. Wie dieser Prozess weitergeht, ist unvorhersehbar. Doch kann man spekulieren, dass eine Zäsur in der Verarbeitung der Anschläge erst eintreten kann, wenn Bush abtritt. Denn längst haben sich die Ära Bush und der 11. September, der Schrecken der Anschläge und die Turbulenzen einer radikalen Politik, auf verhängnisvolle Weise vermischt. Mit Bush bleiben die Amerikaner in der Erinnerung des Schreckens gefangen. Erst nach ihm wird ein Ende der Traumatisierung möglich sein.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung