WAZ: Debatte um Föderalismusreform: Kuhhandel mit der Bildung
Archivmeldung vom 20.06.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Regierungskoalition preist den neuen Zuschnitt der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern als die größte Verfassungsreform seit 1949. Ziel ist eine Beschleunigung des politischen Prozesses, eine flexiblere Republik. Auf 60 Prozent ihres Einspruchsrechts im Bundesrat sollen die Länder verzichten. Das ist gut und notwendig.
Doch dafür wollen die Länder etwas haben: die
alleinige Hoheit über die Bildung. Damit wurde das, was in jeder
Sonntagsrede als Bedingung für eine auskömmliche Zukunft Deutschlands
beschworen wird, zum Gegenstand eines politischen Kuhhandels.
Die Bildung ist zu wertvoll, um sie allein den Ländern zu
überlassen. Erst vor wenigen Tagen wandten sich mehr als 500
Wissenschaftler an die Politiker und warnten sie vor den Folgen
dieser Reformpläne: Die alleinige Entscheidungskompetenz der Länder
für Hochschulen und Schulen „ist eine international beispiellose
Einschränkung der gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten” und gefährde
den wissenschaftlichen Fortschritt des Landes.
Das Ergebnis einer solchen Reform ist abzusehen: eine Föderation
reicherer und ärmerer Länder mit einem höchst unterschiedlichen
Angebot an Universitäten, Schulen und Instituten. Eigentlich aber
müsste der Bund nach seinem Verfassungsauftrag „gleichwertige
Lebensverhältnisse” herstellen. Das Gegenteil wird zementiert, wenn
die 16 Kultusbürokratien weiterhin fast unabhängig voneinander ihre
eigenen Wege gehen. Es sei heute schon leichter, sich mit einer
Fachhochschulreife aus Sachsen-Anhalt in London einzuschreiben als in
Bayern, meinen Kritiker. Nicht einmal der Semesterbeginn ist
bundesweit einheitlich geregelt.
Hauptschüler sind die Verlierer unseres Bildungssystems. Eine
frühe und gute Förderung schwacher Schüler aber kostet Geld, das den
Ländern fehlt. Der Bund darf nicht einspringen, so wollen es die
meisten Ministerpräsidenten. Auf der anderen Seite steckt die
Bundesagentur für Arbeit jedes Jahr zwei Milliarden Euro in
Fortbildungen von Schülern ohne Abschluss. Sinnvoll? Wie soll man
eine Staatsreform nennen, nach der der Bund zwar deutsche Schulen in
Indien und China fördern darf, nicht aber in Recklinghausen oder
Kassel?
Schulen und Universitäten sollen ausgerechnet jenen
Länderministern überlassen werden, die für Pisa, soziale
Bildungsauslese, überfüllte Massenunis und mittelklassige Hochschulen
verantwortlich sind. Wenn sich nicht bald die Einsicht durchsetzt,
dass Bildung eine gesamtstaatliche Aufgabe ist, wird das chaotische,
kleinstaatliche Bildungssystem für die weitere Zukunft zum traurigen
„Alleinstellungsmerkmal” Deutschlands in Europa.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung