WAZ: Armutsbericht
Archivmeldung vom 20.05.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.05.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDa ist sie wieder, die Arm-Reich-Debatte im Schwarz-Weiß-Format: Wie 2001 und 2005, als die Regierung einen Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt hat, ist das Erschrecken über die Statistik groß: Arme werden ärmer, Reiche werden reicher. Diesmal aber ist der Schrecken besonders groß.
Offenbar empfinden die Bürger Ungleichheit zunehmend als
ungerecht, und das hat mehrere Gründe: weil Top-Manager aus
Steuerparadiesen eine Nase drehen, weil Führungskräfte die Bank
verspielen und dennoch Millionäre sind, weil Konzerne von heute auf
morgen verschwinden, wenn Löhne anderswo günstiger sind, weil -
kurzum - ein großer Teil der Leute im Lande D den Eindruck hat, vom
Staat, von Energie- und Ölgesellschaften und neuerdings allgemein von
den Reichen über den Löffel barbiert zu werden. Die Ehrlichen haben
das Gefühl, die Dummen zu sein. Und das ist für jedes Gemeinwesen ein
äußerst problematischer Befund. Die vermeintliche Elite macht es
Populisten leicht, Gleichheit als erstrebenswertes Ziel erscheinen zu
lassen, ganz so, als wäre die sozialistische Staatswirtschaft nicht
gescheitert.
Der Armutsbericht ist Wasser auf deren Mühlen. Armut in einer der
reichsten Volkswirtschaften der Welt - das ist doch ein Skandal. Ist
es, selbst wenn man von relativer Armut zu sprechen hat, Deutschland
ist nicht Afrika. Armut allein mit Hilfe des Rechenschiebers am
mittleren Einkommen zu messen, aber ist nicht besonders intelligent.
Dieser Wert ist genau der Betrag, bei dem 50 Prozent der Bürger mehr
und 50 Prozent der Bürger weniger Geld zur Verfügung hatten. Wer
weniger als 60 Prozent davon hat - 871 Euro netto für Alleinstehende
- gilt als arm. Diese Rechnung ist grundsätzlich verzerrend, denn
Einkommenssteigerungen der unteren Hälfte schieben den Mittelwert
nach oben, womit rechnerisch mehr Leute als arm gelten;
Einkommenseinbußen von Reichen drücken den Mittelwert, womit die
Armut abnimmt.
Eine Handlungsanleitung aus dem Bericht herauszulesen, ist
schwierig, zumal die Zahlen aus 2005 stammen, mithin Hunderttausende
neue Stellen und die jüngsten Lohnerhöhungen nicht berücksichtigt
sind. Ob es Armen, hier vornehmlich alleinerziehenden Frauen mit
ihren Kindern, nützt, wenn "Reiche" ins Visier geraten, ist zu
bezweifeln. Die reichsten zehn Prozent (ab 120 000 Euro
Jahreseinkommen) steuern 55 Prozent zum Einkommensteueraufkommen bei,
die ärmere Hälfte der Bevölkerung 5,1 Prozent. Eine Umverteilung -
auch dank der Ungleichheit. Die Armutsdebatte hat eine differenzierte
Argumentation verdient.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Thomas Wels)