Rheinische Post: Der Blues-Präsident
Archivmeldung vom 16.06.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittHelmut Kohl wollte die Europa-Hymne, Johannes Rau einen Bach-Choral, und Gerhard Schröder ging mit dem Sinatra-Song "My Way". Es spricht Bände, dass sich Horst Köhler bei seinem offiziellen Abschied durch einen Zapfenstreich der Bundeswehr gestern Abend als persönliches Wunschlied für Blues entschied.
Blues, das steht für Ernüchterung und Enttäuschung. Und der von Köhler bestellte "St. Louis Blues" sogar für das Erlebnis von Erniedrigung. Es gibt darin eine Zeile, die treffend das Ende dieser Präsidentschaft ausdrückt: "Ich pack meine Sachen und mach mich davon." Blues - vom englischen "I am blue / Ich bin traurig": Er intoniert eine Amtszeit der Traurigkeit. 2004 gewählt als sichtbare Vorankündigung einer christlich-liberalen Reform-Mehrheit, stand Köhler 2005 tatsächlich vor einer großen Koalition der kleinen Schritte. Seine Erwartungen an Merkel und Merkels Erwartungen an ihn, sie kamen nicht überein. Eine Parallele ergab sich erst nach beider Wiederwahl. Die Kanzlerin kam nicht in Tritt, der Präsident ebenfalls nicht. Was sich ansonsten alles angestaut haben mag, das zum spektakulären Präsidenten-Rücktritt führte - die Melancholie der Melodie vermochte uns davon gestern zumindest eine Ahnung zu geben.
Quelle: Rheinische Post