Leipziger Volkszeitung zu Irak-Geiseln
Archivmeldung vom 04.05.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 04.05.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittIn solchen Momenten ringen auch Medien-Profis um geeignete Worte und stürzen sich in Floskeln: "Erschöpft, aber wohlbehalten" seien René Bräunlich und Thomas Nitzschke nach 99 Tagen irakischer Geiselhaft in ihre Heimat zurückgekehrt. So, oder so ähnlich war es in Nachrichtenagenturen zu lesen und in Radio und Fernsehen zu hören, nachdem sich die beiden mit kurzen und würdigen Worten auf einem Berliner Rollfeld in der Freiheit zurückgemeldet hatten.
Wie wohlbehalten die Körper der Opfer menschenverachtender
Kidnapper sind, ließ sich medizinisch schnell feststellen. Aber wer
maßt sich an zu wissen, wie die beiden ihre Qualen und die
Gewissheit, in jeder Minute umgebracht werden zu können, psychisch
und seelisch verarbeiten werden. Verwandte, Freunde und Mediziner
können wichtige Stützen beim Zurückfinden in den Alltag sein. Das
Leben ehemaliger Geiseln wird dennoch nie wieder dasselbe sein wie
vorher. Und am Ende sind es die Betroffenen selbst, die mit großem
Willen das Trauma totaler Ohnmacht überwinden müssen. Ihre schwerste
Zeit haben die Irak-Geiseln überwunden, eine schwere Zeit steht ihnen
noch bevor.
Nitzschke und Bräunlich werden aus der Isolation ihres geheimen
Kerkers direkt in eine Medienwelt katapultiert, die Bildern und
Stellungnahmen hinterherjagt. Werden sie also bald die Farbstrecken
der Illustrierten und die allabendlichen Kerner-, Beckmann-,
Maischberger- oder Jauch-Boxen füllen? Vielleicht. Vielleicht aber
auch nicht: Manche Entführungsopfer plaudern über ihr Leiden in
Talkshows, manche scheuen die Öffentlichkeit aus Angst vor
voyeuristischer Schicksalssezierung. Für was auch immer sich
Nitzschke und Bräunlich entscheiden, ihr Weg ist zu respektieren.
Andere Debatten müssen zwingend geführt werden. Welche Fehler können
in Zukunft vermieden werden, wenn Deutsche durch Krisengebiete reisen
oder dort sogar arbeiten? Nicht nur im Irak greift eine
Entführungskultur um sich, die zivilisiertes Zusammenleben erschwert.
Jahrelang war ein Deutscher in Kolumbien entführt. Von seinem
Schicksal wurde wenig Notiz genommen. Hat das seine Freilassung
hinausgezögert oder am Ende sogar zur Lösung beigetragen? Nach der
undurchschaubaren Osthoff-Entführung wurde diskutiert, wie weit der
Staat jedem risikobereiten Bürger eine globale Vollkasko-Police
ausstellen muss. Seit der Geiselnahme der Leipziger fällt die Antwort
leichter als nach der Osthoffs: Demokratische Regierungen müssen
alles tun, um in Not geratene Bürger zu schützen.
Der Staat hat gute Gründe, über die Umstände von Geiselbefreiungen zu
schweigen: Maulkörbe sind gerechtfertigt. Irritierend ist deshalb,
dass ausgerechnet der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot
Erler, Details ausgeplaudert hat. Offenbar haben die oft gescholtenen
Amerikaner kräftig bei der Befreiung geholfen: Weil sie Kontakt zu
den Entführern herstellen konnten, oder weil sie Druck auf sie
ausübten. Erlers Information, bei den Entführern handele es sich um
eine kriminelle, aber keine politisch motivierte Gruppe, hätte er
besser diplomatisch verschluckt. Der Hinweis aber zeigt eins: Die
nächste Entführung von Deutschen im Irak könnte nicht so glimpflich
ausgehen.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung