Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur EU-Ratspräsidentschaft
Archivmeldung vom 30.12.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 30.12.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer Übergang könnte krasser nicht sein. Heute noch liegt die EU-Ratspräsidentschaft in den Händen der europäischen Großmacht Frankreich und ihres quirligen Präsidenten Nikolas Sarkozy.
Vom Neujahrstag an versucht sich das kleine, weltpolitisch unerfahrene Tschechien an der Führung der Staatengemeinschaft. Arbeit gibt es mehr als genug für Ministerpräsident Mirek Topolanek und seine Regierung in Zeiten der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und des neuerlichen Krieges in Nahost. Doch die innenpolitischen Voraussetzungen sind alles andere als optimal. Topolaneks grün-konservative Dreier-Koalition steht im Parlament auf wackligen Füßen. Zuletzt verweigerten Abgeordnete des eigenen Lagers die Gefolgschaft. Die Konsequenz: Ohne neuen Kompromiss mit der Opposition müsste Tschechien im Februar seine Truppen aus Irak, Afghanistan und dem Kosovo abziehen. Eine Blamage droht. Möglich ist sogar, dass der sozialdemokratische Oppositionsführer Jiri Paroubek nach vier gescheiterten Versuchen einen fünften Misstrauensantrag stellt. Größter Unsicherheitsfaktor ist allerdings der eigene Staatspräsident. Vaclac Klaus ist einer der schärfsten EU-Kritiker überhaupt. Das erfuhren zuletzt die Europa-Parlamentarier um Daniel Cohn-Bendit bei ihrem Besuch. Nicht nur, dass Klaus Inhalte des vertraulichen Gespräches prompt auf seiner Internetseite platzieren ließ. Die Aufforderung, die EU-Flagge an seinem Amtssitz auf der Prager Burg hissen zu lassen, lehnte der selbstbewusste Klaus brüsk ab: »Wir sind keine Kolonie der EU.« Zwar hat der Präsident keine außenpolitischen Kompetenzen, schlechte Stimmung verbreiten kann er aber allemal. Und um eine Provokation ist der 67-Jährige nie verlegen: So missfiel in EU-Kreisen vor allem, dass Klaus dem irischen Lissabon-Gegner Declan Ganley seine Aufwartung machte. Bekannt ist Klaus auch für seine prononcierten Thesen. Die Diskussionen um den Klimawandel hält er für ebenso maßlos übertrieben wie die Reaktion auf die Finanzkrise. Der Ökonomieprofessor gilt als neoliberal. Der von ihm selbst gegründeten Bürgerpartei ODS hat er den Rücken gekehrt, weil er die Politik des Parteichefs Topolanek für zu europafreundlich hält. Dabei ist der Ministerpräsident eher Rationalist als glühender Verfechter des europäischen Gedankens. Im Zweifel sieht er sein Land in der Nähe zur EU besser aufgehoben als in der Nähe zu Russland. Skeptiker Klaus im Nacken, muss Topolanek nun die europäischen Partner überzeugen. Die Latte liegt hoch, auch weil am 7. Juni Europawahlen anstehen. »Am meisten freue ich mich auf den 30. Juni«, sagte Topolanek jüngst. Wen kann's wundern?
Quelle: Westfalen-Blatt