Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Bundespräsidentenwahl
Archivmeldung vom 29.06.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittMorgen steht wieder ein K.o-Spiel an. Nein, nicht in Südafrika, die Fußball-WM macht doch Pause. Austragungsort ist der Reichstag in Berlin, es geht um den Titel des Bundespräsidenten. Die Sache ist einfach: Christian Wulff, noch CDU-Ministerpräsident in Niedersachsen, hat eine klare Mehrheit in der Bundesversammlung, Joachim Gauck, Kandidat von SPD und Grünen, eine gefühlte Mehrheit im Volk und sicher eine in der veröffentlichten Meinung.
Nie zuvor waren zwei Kandidaten so sehr auch Projektionsfläche. Während Wulff quasi als Bauernopfer für alles Verwerfliche der Parteipolitik steht, ruhen auf Gauck schier unerfüllbare Hoffnungen und Wünsche, die nicht nur mit seinen unbestreitbar großartigen Talenten zu tun haben. Der 71-Jährige ist so etwas wie »der Bundespräsident der Herzen«. Auch weil Gaucks Ansehen und seine Chancen, gewählt zu werden, im Missverhältnis stehen, hat man zuletzt vor allem zweierlei gehört: den Ruf nach einer Direktwahl des Bundespräsidenten und den Wunsch, sich auf einen überparteilichen Kandidaten zu einigen. Beide Forderungen sind verständlich, führen aber trotzdem in die Irre. Für eine Direktwahl des Bundespräsidenten bedürfte es einer Änderung des Grundgesetzes. Die war und ist nicht in Sicht. Doch selbst, wenn das anders wäre, bliebe die Idee von zweifelhaftem Nutzen. Wie nämlich sollte sich ein Bundespräsident, der vom Volk gewählt und damit stärker legitimiert ist als der Bundeskanzler, mit repräsentativen Aufgaben zufrieden geben? Auch würde eine Direktwahl den Kampf um den Posten des Staatsoberhaupts erst recht in Gang bringen. Joachim Gauck verteilt Blümchen in der Bielefelder Innenstadt, Christian Wulff lächelt von tausenden Plakaten - soll das der Würde des Amtes zuträglich sein? Und schließlich die Frage nach der Kandidatenkür: Würde direkt gewählt, hätte Joachim Gauck wohl kaum eine Chance bekommen, weil Günther Jauch, Lena Meyer-Landrut und auch Jogi Löw einfach populärer sind. Vor diesem Hintergrund ist auch die Forderung nach einer Überparteilichkeit der Kandidaten scheinheilig. Man kann es nicht oft genug sagen: Nicht nur Christian Wulff ist parteilich, sondern auch Joachim Gauck. SPD und Grüne haben ihn ins Rennen geschickt. Und sie haben es nicht nur getan, weil sie ihn für den besten Mann halten, sonst hätten sie ihn früher nominieren müssen, beispielsweise im Mai 2009. Sie haben Gauck vor allem nominiert, um das schwarz-gelbe Regierungslager und Kanzlerin Angela Merkel auf die Probe zu stellen. Das ist nicht ehrenrührig, sondern in der Parteiendemokratie vollkommen legitim und noch dazu ein genialer Schachzug. Ebenso legitim aber ist Merkels Entscheidung für Wulff. Schließlich muss nicht der Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten überparteilich sein, der Bundespräsident muss es sein.
Quelle: Westfalen-Blatt