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BERLINER MORGENPOST: Berlins schönster Ausnahmezustand

Archivmeldung vom 10.02.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 10.02.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Wir glaubten einmal, die Berlinale sei ein Filmfestival. Wir haben uns geirrt. Zumindest seit Dieter Kosslick die Direktion übernommen hat. Die 61. Filmfestspiele, die heute Abend eröffnet werden, sind bereits die zehnten unter seiner Ägide. Und wie ist der Apparat ausgewachsen in der Ära Kosslick. Es geht längst nicht mehr nur darum, passiv Filme im Kino (und Stars am Teppich) zu schauen.

Kosslick hat das Festival ausgeweitet. Er hat es mit dem Talent Campus auch zum Workshop für Filmnachwuchs gemacht; hat es auch für völlig filmfremde Metiers geöffnet: mit dem Forum Expanded wird die ganze kreative Kunstszene der Stadt miteingebunden, und mit dem Kulinarischen Kino werden plötzlich auch Star-Köche filmaffin. Zugleich ist das Festival weit über sein angestammtes Areal, den Potsdamer Platz, expandiert, bis tief in den Osten ist es ausgewachsen und drängt seit Neustem auch noch in die Kieze. Gern wird in diesem Zusammenhang vom "Kraken Berlinale" gesprochen, der geografisch wie thematisch seine Tentakeln weit ausstreckt. Die Berlinale, so haben wir gelernt, ist nicht nur ein Film-, sie ist ein Stadtfestival. Aber auch hier haben wir zu kurz gedacht. Die Berlinale ist ein Lebensgefühl. Wir wollen nicht so weit gehen, wie beim Karneval von einer "fünften Jahreszeit" zu sprechen. Aber irgendwie ist doch für die kommenden zehn Tage wieder ein Ausnahmezustand ausgerufen, in dem die unterschiedlichsten Bewohner und Gäste der Stadt von einem Fieber angesteckt werden, von dem sie meinen, dass es dasselbe sei. Nun mag der Infekt nicht bei allen gleich wirken, aber tatsächlich gehen hier komplette Parallelfestivals vonstatten. Weil bei der gigantischen Größe und der unübersichtlichen Bandbreite des Programms jeder einen buchstäblich anderen Film erlebt. Es gibt die Zaungäste, die nur mal den Rummel auf dem roten Teppich erleben wollen. Es gibt die Filmfreaks, die die abwegigsten Titel aus den entlegensten Filmregionen entdecken wollen. Verleiher, die auf dem Filmmarkt ganz andere Filme gucken und kaufen. Und natürlich auch die Stars, die von einer Party zur nächsten hasten und nie dazu kommen, ins Kino zu gehen, weil man "networken" muss. Es gibt aber auch immer mehr Kneipen, Läden und Partyveranstalter, die zu eigenen Berlinale-Events aufrufen, einfach weil Festival ist und man auch was bieten will. Von der riesigen Cinema-for-Peace-Gala bis hin zu kleinsten Eckkneipaktionen. Die Berlinale, ein Lebensgefühl. Das Festival hat dafür sogar ein markantes Sinnbild gefunden. Das diesjährige Plakat ziert ein einziger Buchstabe, ein großes, von Lichtstrahlen umkränztes B, das einem an allen Ecken begegnet. Vergessen sei die Werbekampagne "be Berlin" (die mancher krampfig fand). B steht für alles, für Berlin, für die Berlinale - und das Lebensgefühl, das uns alle überkommt in den kommenden zehn Tagen. Und die wenigen, die doch ihren Geschäften nachgehen und nicht von dem Infekt angesteckt sein sollten, wollen wir bitten, nachsichtig zu sein mit all jenen, die da rund um den Potsdamer Platz, aber auch in den Kiezen vielleicht in einer anderen Sphäre schweben. Es ist eben der schönste Ausnahmezustand, den diese Stadt zu bieten hat.

Quelle: BERLINER MORGENPOST

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