WAZ: Vor zwei Jahren wuchs die EU: Europas Sinnkrise
Archivmeldung vom 18.04.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 18.04.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittAm 1. Mai ist es genau zwei Jahre her, dass sich Europas Staats- und Regierungschefs vor dem Dubliner Schloss zur „Ode an die Freude” und dem Geknatter von blauen Sternenbannern in den Armen lagen. Die Augen waren feucht, die Stimmen belegt, die Gemüter bewegt. Die EU hatte sich an diesem Tag um zehn Staaten nach Osten erweitert.
Die Teilung des Kontinents schien endgültig überwunden,
die schlimme Erblast des Zweiten Weltkriegs ein für alle Mal
abgetragen. 25 souveräne Staaten friedlich vereint unter dem Dach
einer Staatenunion – wenn das kein Grund zum Feiern ist!
Inzwischen ist die weihevolle Stimmung von damals verflogen.
Härter als je zuvor ringt jede Regierung um Vorteile auf Kosten der
jeweils anderen. Arbeitsmärkte werden abgeschottet,
Wettbewerbsprozesse behindert, Subventionen beinhart verteidigt. Im
Zweifel haben vermeintlich nationale Interessen Vorrang vor dem einst
hehren Binnenmarktprinzip. Das Bewusstsein, an einer Einigung von
historischer Dimension mitzuwirken, ist irgendwo im Brüsseler
Alltagsbetrieb verloren gegangen. Nur wo?
Es begann mit einer Selbsttäuschung. Die große Ost-Erweiterung war
zwar historisch geboten und alternativlos – der politische Nutzen und
sein Preis hätten jedoch klarer benannt werden müssen.
Seit die Gründungsmitglieder Deutschland und Frankreich
wirtschaftlich angeschlagen sind, leidet erkennbar ihr
Selbstbewusstsein, sich dem Wettbewerb und den EU-Regeln zu stellen.
Mit Abwehrreflexen gegen „Billiglöhner” aus dem Osten, neidischen
Blicken auf Subventionsflüsse, aber auch mit dem Traum von nationalen
Industriechampions oder dem Unwillen zur Haushaltsdisziplin geben die
großen Volkswirtschaften ihre Vorbildfunktion zusehends auf.
Zu neuem Gemeinschaftssinn könnte die Gewissheit beitragen, Teil
eines einzigartigen Projekts zu sein. Doch die EU weiß nicht, was sie
sein soll und wohin sie will. Die EU-Verfassung, die Europa
entscheidungsfreudiger machen und näher an den Bürger bringen soll,
liegt auf Eis. Und in der Erweiterungsdebatte setzt sich erst
allmählich die Erkenntnis durch, dass Europa Grenzen braucht, wenn es
im Kern stark sein will. Zu viele Beitrittsversprechen – vom Balkan
bis zur Türkei – warten noch auf Einlösung. Hier politische
Alternativen zur EU-Vollmitgliedschaft aufzuzeigen, ohne die
aufnahmewilligen Kandidaten zu brüskieren, dürfte die schwierigste
Aufgabe der kommenden Jahre werden.
Doch wer soll Visionen liefern? Herzenseuropäer sind mittlerweile
rar unter den EU-Regierungschefs. So lasten auf Neu-Kanzlerin Merkel,
die ausgerechnet 2007 zum 50. Jahrestag der „Römischen Verträge” die
EU-Ratspräsidentschaft übernehmen muss, enorme Erwartungen. Um diese
Vorschusslorbeeren ist sie nicht zu beneiden.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung