Mittelbayerische Zeitung Regensburg, Kommentar Chodorkowski-Prozess
Archivmeldung vom 28.12.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittImmer wieder keimen im Westen Hoffnungen auf, das postsowjetische Russland könnte doch noch die Kurve kriegen und auf den Pfad demokratischer Tugenden einschwenken. Und immer wieder werden diese Hoffnungen enttäuscht. Das Urteil im zweiten Prozess gegen den einstigen Öl-Milliardär und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski ist ein weiterer trauriger Beleg dafür, dass Russland noch Lichtjahre davon entfernt ist, ein demokratischer Rechtsstaat zu sein.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das Mitleid mit dem erneut schuldig gesprochenen früheren Oligarchen sollte sich in Grenzen halten. Chodorkowski hat in den 90er-Jahren sehr wohl gegen Gesetze verstoßen. Dass dies zu Boris Jelzins Chaos-Zeiten in Russland gang und gäbe war, macht die Sache nicht besser. Deshalb hat es auch einen schalen Beigeschmack, wenn sich Menschenrechtler im Westen im Brustton der Überzeugung für den früheren Yukos-Boss in die Bresche werfen. Fakt ist aber auch, dass Chodorkowski nach der Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten die Opposition unterstützte und für ein sozialeres Russland kämpfte. Damit stellte er sich zu Beginn des neuen Jahrtausends gegen den Kreml, der zu jener Zeit das machiavellistische Machtprinzip wiederentdeckte. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", lautet der Leitsatz, nach dem das von Putin etablierte und von seinem Ziehsohn Dmitri Medwedew weiterhin exekutierte politische System in Russland funktioniert. Die Chodorkowski-Prozesse waren juristisch eine Farce. Sie waren deshalb vor allem eines: Lehrstücke in Sachen "gelenkte Demokratie".
Quelle: Mittelbayerische Zeitung