Der Westen drückt ein Auge zu: Die Ukraine hat ein Faschismusproblem
Archivmeldung vom 05.05.2021
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 05.05.2021 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Sanjo BabićPaul Robinson schrieb den folgenden Kommentar: " Die Ukraine ist zwar sicher kein faschistischer Staat. Doch noch viel weniger ist sie ein demokratischer Musterstaat, wie uns die Maidan-Anhänger glauben machen wollen. Je eher das Land sein Faschismusproblem anerkennt, desto besser. Der Aufmarsch von vergangener Woche in der Innenstadt von Kiew zum Gedenken an die 14. SS-Division "Galizien" war nicht wirklich ein Beleg dafür, dass die Ukraine ein faschistischer Staat ist, sondern hat vielmehr gezeigt, dass ihre Staatsführung sich schuldig macht, auf dem rechten Auge blind zu sein und den Faschismus für ihre Zwecke auszunutzen."
Robinson weiter: "Mit Ausnahme deutscher und israelischer Botschafter gibt der Westen vor, davon nichts bemerkt zu haben. Besonders die englischsprachigen Medienkorrespondenten in der ukrainischen Hauptstadt und jene, die das Land von Moskau aus beobachten."
Vielleicht sind sie von Horatio Nelson inspiriert, der einst gesagt haben soll: "Ich sehe das Signal wirklich nicht", nachdem er per Signalflagge angewiesen worden war, seinen Angriff in der Schlacht von Kopenhagen einzustellen. Stattdessen legte der Admiral sein Teleskop vor sein blindes Auge und erklärte, nicht zu sehen, was für alle um ihn herum sichtbar war. Vorsätzliche Blindheit hat dem Admiral an diesem Tag gute Dienste geleistet. Aber oft genug mündet sie in eine Katastrophe. Ein Beispiel ist die Haltung der heutigen Ukraine gegenüber ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit.
Seit Präsident Wiktor Janukowitsch im Februar 2014 aus Kiew geflohen ist, streiten Anhänger und Gegner des Maidan über die Sichtweisen auf die Ereignisse, die zu seinem Sturz geführt haben. Für die Unterstützer des Maidan war es eine friedliche und populäre "Revolution der Würde", durchgeführt, um einen autoritären Diktator zu stürzen und eine demokratische Ordnung zu schaffen. Für die Gegner war es ein Staatsstreich, angeführt von einem bewaffneten und gewalttätigen rechtsextremen Mob, der keine Demokratie, sondern eine "faschistische Junta" einrichtete, die an die Stelle der demokratisch gewählten Regierung von Janukowitsch trat.
Letztere weisen auf die führende Rolle der rechtsextremen Gruppierung "Rechter Sektor" hin, die sie bei den Ereignissen im Februar 2014 gespielt hat und auf die ein Großteil der für den Sturz der Regierung erforderlichen Gewalt zurückging. Sie weisen auch auf die faschistischen Symbole hin, die von einigen der sogenannten "freiwilligen" Bataillone bevorzugt werden, die im Krieg in der Ostukraine gekämpft haben, insbesondere vom Regiment Asow. Hinzu kommen die nationalistische Rhetorik des ukrainischen Ex-Präsidenten Petro Poroschenko, der von 2014 bis 2019 im Amt war, sowie verschiedene verabschiedete Gesetze zur Einschränkung des Gebrauchs der russischen Sprache, was das Bild einer Ukraine nach dem Maidan als "faschistischer" Staat vervollständigen würde.
Demgegenüber argumentieren die Anhänger des Maidan, dass die äußerste Rechte eine kleine Minderheit innerhalb derjenigen darstellte, die gegen Janukowitsch protestierten, und dass faschistische Gruppen angesichts ihres schlechten Abschneidens bei den Wahlen in der Ukraine nur sehr wenig Unterstützung in der Bevölkerung genießen – obwohl man festhalten muss, dass sich in der Rhetorik von Poroschenko einiges an rechtsextremen Ansichten fand. Wie auch immer, Anhänger des Maidan argumentieren, dass die Ukraine eine parlamentarische Republik ist, deren Präsident nicht im Entferntesten als Faschist angesehen werden kann und der sich zur Liberalisierung und Demokratisierung des von ihm geführten Landes bekennt.
In diese berauschende Mischung von Ansichten hinein marschierten diese Woche ungefähr hundert ukrainische Nationalisten, um in Kiew den Jahrestag der Gründung der 14. SS-Division "Galizien" zu feiern. Die Division bestand aus ukrainischen Freiwilligen und war im Zweiten Weltkrieg Teil der nationalsozialistischen Waffen-SS. Von der sowjetischen Armee weitgehend aufgerieben, wurde sie neu formiert und beteiligte sich an Sabotageoperationen in der Slowakei und in Jugoslawien, bis sie im Mai 1945 endgültig kapitulierte. Obwohl die Division nicht abschließend mit schweren Kriegsverbrechen in Verbindung gebracht werden konnte, dienten viele ihrer Mitglieder zuvor den Nationalsozialisten als HiWi – Hilfswillige –, die sich der Gräueltaten gegen Zivilisten schuldig machten. Nach dem Krieg wurde die SS, zu der die Division "Galizien" gehörte, zur kriminellen Vereinigung erklärt.
Man sollte annehmen, dass das Feiern einer SS-Einheit jenseits jeder Schamgrenze liegt. Die Veranstaltung in der vergangenen Woche, wenn auch überschaubar in seiner Größe, war aber nur insofern ungewöhnlich, als sie in Kiew stattfand. Das Gedenken an die 14. SS-Division hat in der Westukraine seit geraumer Zeit Tradition. Es gibt sogar ein Denkmal für die Division im kanadischen Oakville im Bundesstaat Ontario. Und wenig überraschend haben sich die Gegner der ukrainischen Maidan-Regierung auf den SS-Gedenkmarsch in Kiew gestürzt, als Beleg dafür, dass die "neue Ukraine" zu Recht als faschistisch bezeichnet werden kann.
Versuche der ukrainischen Behörden und ihrer Unterstützer, ihr "Teleskop" vor das blinde Auge zu halten und zu erklären, dass "man wirklich keine Faschisten sehe", klingen hohl. Wenn in der Hauptstadt riesige Banner entfaltet werden, auf denen Nazisoldaten als Helden gefeiert werden, wird es schwer zu leugnen, dass es ein Problem gibt. Sogar Anton Drobowitsch, der Leiter des Ukrainischen Instituts für Nationale Erinnerung, einer Organisation, die allgemein für ihre nationalistische Linie bekannt ist, fühlte sich verpflichtet, den Aufmarsch zu verurteilen, und sagte: "Die Verherrlichung der SS ist für ein europäisches Land inakzeptabel."
Es stellt sich jedoch die Frage, warum die ukrainischen Behörden die Veranstaltung zugelassen haben. Für dieses Jahr wurde die traditionelle Parade zur Feier des Endes des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 (und damit auch die Feier des sowjetischen Sieges) abgesagt, da sich während der COVID-19-Pandemie keine großen Menschenmengen treffen sollen. Aus irgendeinem Grund galt diese Logik jedoch nicht für einen Aufmarsch in Erinnerung an SS-Kollaborateure.
Dies deutet auf eine ungesunde Befangenheit hin, mit der die ukrainische Regierung die Vergangenheit der Ukraine betrachtet. Das Problem hierbei ist nicht, dass die Regierung eine "faschistische Junta" ist. Das ist eindeutig eine enorme Übertreibung. Trotz Einschränkungen beim Gebrauch der russischen Sprache und der jüngsten Unterdrückung einiger oppositioneller Medien und Persönlichkeiten bleibt die Ukraine eine relativ freie und offene Gesellschaft. Sie ist nicht im entferntesten faschistisch.
Das Problem besteht, dass die westlich orientierten, nominell liberalen Intellektuellen und Politiker, die in der Ukraine seit Februar 2014 federführend sind, aus taktischen Gründen beschlossen haben, auf dem rechten Auge blind zu bleiben. Hinter dieser Entscheidung liegen mehrere mögliche Gründe. Erstens hat sich die äußerste Rechte für die prowestliche Elite des Maidan als nützlich erwiesen und sie mit der Streitkraft ausgestattet, die sie benötigte, um zuerst an die Macht zu gelangen und diese anschließend zu festigen.
Zweitens scheint es einen weit verbreiteten Konsens zu geben, dass die äußerste Rechte zwar etwas extrem, deren Herz jedoch am richtigen Fleck ist. Dies ist verbunden mit der Überzeugung, dass faschistische Symbole nicht wirklich faschistisch sind, sondern lediglich den nationalen Kampf gegen den Kommunismus darstellen. Und drittens könnte die Regierung einfach Angst vor ihnen haben.
Verschärfend wirkt, dass die westlichen Staaten sich nicht bereit zeigen, die Ukraine mit dieser Frage zu konfrontieren, während die westlichen Medien – mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen – weitgehend beschlossen haben, sie zu ignorieren. So wurde beispielsweise der Aufmarsch der letzten Woche in Kiew in keinem anderen internationalen Medienunternehmen als RT veröffentlicht. Anstatt zuzugeben, dass die Kritiker der Ukraine ein Argument haben, schauen westliche Kommentatoren lieber weg.
Diese Logik mag zwar Sinn ergeben, ist aber letztendlich selbstzerstörerisch. Die äußerste Rechte brachte die derzeitigen Machthaber an die Macht, delegitimierte diese jedoch in den Augen eines bedeutenden Teils der Bevölkerung gründlich. Das Ergebnis ist ein Bürgerkrieg. Die Ukraine ist kein faschistischer Staat, aber sie hat ein Faschismusproblem. Je früher sie dies um ihrer selbst willen anerkennt, desto besser.
Paul Robinson ist Professor an der Universität von Ottawa. Er schreibt über russische und sowjetische Geschichte, Militärgeschichte und Militärethik und ist Autor des Blogs Irrussianality. In der Originalversion finden Sie seinen Text hier.
Quelle: RT DE von Paul Robinson