Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Frankfurter Buchmesse
Archivmeldung vom 06.10.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWenn Mafalda nicht für die Demokratie oder für die Frauenrechte kämpft, dann liegt sie auf dem Bauch und liest. Mafalda, die pausbäckige argentinische Göre aus den Comics von Quino, entspricht nur bedingt dem Klischee, demzufolge der Argentinier, statt sich um Bürgerrechte zu kümmern, lieber Tango tanzt. An zweiter Stelle jedenfalls steht das Lesen, da sind sich Mafalda und der Argentinier einig. Jahr für Jahr gelangen 80 Millionen Bücher in den Handel - in einem Land, in dem von Patagonien bis hinauf zum Rio Paraná nur 40 Millionen Menschen leben. 19 500 neue Titel aus 3200 Verlagen.
Diese Zahlen beeindrucken, und wie immer, wenn uns etwas beeindruckt, hat ein Deutscher am Erfolg mitgeschraubt, in diesem Fall ein Verleger, der aus Hessen auswanderte: Jacob Peuser (1843-1901) ließ Remarque übersetzen und machte die Argentinier zu Literaturfreunden. Señor Peuser kommt sogar in Jorge Luis Borges' und Julio Cortázars Erzählungen vor, und die beiden gelten bekanntlich als das Nonplusultra der argentinischen Belletristik. Es sieht so aus, als hätten die Frankfurter mit der Auswahl ihres Gastlandes mehr Glück gehabt als 2009, als sie von den Chinesen belehrt wurden, was wahre Demokratie ist. Von den Südamerikanern ist Politpädagogik nicht zu befürchten - Pablo de Santis aus Buenos Aires, derzeit Frankfurts Stadtschreiber, ging als erstes nicht ins Jüdische Museum, sondern zum Struwwelpeter. Und was unsere Gedenkkultur zum Thema Terror angeht: Dafür bewundern uns die Argentinier, vielleicht weil sie ein ähnliches Trauma zu verarbeiten haben. Entspannt lehnt sich Frankfurt zurück und widmet sich dem Wesentlichen: dem Geschäft. Den E-Books. Von denen hat Random House 2009 bloß 10 000 Exemplare verkauft - Peanuts. 2010 wollen höchstens 2,9 Millionen Deutsche ein E-Book kaufen - mickerige Zahlen, wenn Sie an Argentinien denken. Nun ließe sich einwenden, dass Deutschland Zirkus ohne Programm macht, denn es gibt 1,2 Millionen lieferbare Bücher, aber nur 20 000 Titel für das Lesegerät, den E-Reader. Der wird von eilfertigen Journalisten heftig beworben, das heißt, man versucht uns statt Clown und Tigerdressur das Zirkuszelt zu verkaufen. In Frankfurt gelten dennoch »Hot Spots« als der letzte Schrei, digitale Präsentationsplattformen, an denen man neue E-Reader-Modelle testen oder künftige Strukturen des (E-Book-)Handels wahrsagen darf. Dabei ist die Geschäftsidee, dass der Inhalt das Medium designt, längst tot. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Hardware-Designer hecheln den Inhalten hinterher. Die Japaner beweisen es uns: E-Reader sind okay für die kurze Ablenkung, gerade passend für das Lesehäppchen in der U-Bahn. Und wir? Wir holen uns jetzt »Brennender Zaster« von Ricardo Piglia. Hochspannung aus Argentinien. Auf Papier gedruckt.
Quelle: Westfalen-Blatt