Neue Presse Hannover: Kommentar zu 20 Jahre Einheit
Archivmeldung vom 02.10.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWann ist die Einheit vollendet? Wenn der erste Ostdeutsche in einem westdeutschen Grundbuch steht." Für diesen Nachwendewitz gäbe es auch heute noch in jedem Ostkabarett Szenenbeifall. "Und das alles von unserem Soli...". Diese Bemerkung angesichts prächtig sanierter Innenstädte in den neuen Bundesländern würde an jedem westdeutschen Stammtisch mit beifälligem Kopfnicken quittiert. Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Deutschen kein einig Volk von Brüdern, liegen sich nicht im patriotischen Einheitstaumel in den Armen. Sie gleichen vielmehr einer Großfamilie mit Lieblingscousins, verhassten Geschwistern und verehrten Großeltern, mit Glückspilzen, Pechvögeln und schwarzen Schafen; einer Familie, in der man einander mit Respekt und Liebe, aber auch mit Neid und Missgunst begegnet.
Zwar hinken die neuen Bundesländer bei Einkommen, Produktivität und Arbeitsplätzen der alten Bundesrepublik hinterher. Doch es gibt zwischen Aachen und Görlitz, zwischen Ostsee und Alpen längst ganz andere Gräben und Gegensätze als nur zwischen Ost und West. Die in den letzten Wochen bundesweit geführten Debatten um muslimische Parallelwelten oder Hartz-IV-Sätze sind Belege hierfür. Ist es bei dieser Perspektive richtig und wichtig, den 20. Jahrestag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik zu feiern, mit Festakten an ihn zu erinnern, ihn in Sondersendungen zu würdigen, in Talkshows zu analysieren? Dreimal Ja. Denn dieses Datum steht vor allem für die erste gelungene friedliche Revolution in unserer Geschichte, dafür, dass Grenzen verändert wurden, ohne einen Schuss abzugeben, dass Deutschland und Europa ein neues Gewicht und Gesicht bekamen. Zu diesem neuen Gesicht gehören allerdings Spuren und Falten, die auch nach zwanzig Jahren nicht geglättet sind. Und zur Debatte dieser Tage gehört das Nachkarten, ob sie vermeidbar gewesen wären. Wurde aus dem Freiheitsslogan "Wir sind das Volk" zu schnell das fordernde "Wir sind ein Volk?" War der von der Politik gegen Expertenrat durchgesetzte Währungsumtausch zum Kurs von 1:1 unvermeidbar? Verhinderte die Treuhand-Maxime "Rückgabe vor Entschädigung" nicht zügige Investitionen? Vernichtete beides nicht millionenfach erhaltenswerte Arbeitsplätze? Hinter jeder dieser Fragen steckt in Teilen berechtigte Kritik, und sie werden vor allem von jenen gestellt, denen die ganze Richtung von Anfang an nicht passte, den SED-Erben in der heutigen Linken zumal. Auf jede dieser Fragen gibt es aber auch zwei schier unwiderlegbare Antworten: Das Zeitfenster für eine Wiedervereinigung schien angesichts der fragilen Machtverhältnisse in Moskau und der Skepsis unserer Nachbarn nur für kurze Zeit offen, diese Zeit musste beherzt genutzt werden. Und für die Umwandlung einer sozialistischen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft gab es in der Geschichte kein Beispiel und in Wirtschaft und Wissenschaft keine Gebrauchsanweisung. Undankbar nennt der CDU-Bundestagsabgeordnete und einstige DDR-Bürgerrechtler Arnold Vaatz angesichts dieser Begleitumstände die Ostdeutschen. Er verweist auf Polen, Tschechen oder Slowaken, die einen solchen Wandel ohne Hilfe bewältigen mussten und denen es heute immer noch schlechter geht. Nun ist Dankbarkeit keine politische oder historische Kategorie. Wir sollten es, beiderseits der ehemaligen innerdeutschen Grenze, vielleicht eine Nummer kleiner und menschlicher nehmen, uns schlicht und einfach freuen. Darüber, dass zur Einheit auch die Freiheit kam, die Freiheit, zu reden, was man will und zu reisen, wohin man will. Beispielsweise von Hannover nach Leipzig, ganz ohne bürokratischen Antrag und ohne nervende Grenzkontrolle. Immer wieder schön - auch nach zwanzig Jahren.
Quelle: Neue Presse Hannover