BERLINER MORGENPOST: Rechthaberei hilft uns nicht weiter
Archivmeldung vom 03.01.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEinen Stammplatz im Arsenal unserer Alltagsweisheiten hat die Feststellung, dass vieles, was in den USA geschehe, wenig später zu uns schwappe - ob Aerobic-Welle oder Madonna, TV-Shopping oder Schnell-Restaurant. Spannend wird die Frage, ob dieser Nachmacher-Effekt auch für den Stil des politischen Umgangs gilt. Beschleunigt durch die Eruptionen der Finanzkrise erleben die USA eine gesellschaftlich-politische Polarisierung, die Beobachter mit einem Bürgerkrieg vergleichen.
Der große Versöhner Obama hat nicht verhindern können, dass sich Konservative und Liberale mit ihren Leitfiguren, Medien und Parolen wie Armeen gegenüber stehen. Ob Kriege, Gesundheit, Klima, Steuern - die verfeindeten Lager können sich kaum mehr auf eine Faktenbasis einigen, weil jeder den anderen der Falschspielerei bezichtigt. Verschwunden ist der Lösungswille als Minimalkonsens jeden Miteinanders. Man schreit sich an. Auch Deutschland erlebt diese Art der fundamentalistischen Debatte, etwa beim Sarrazin-Buch. Verfeindete Lager beharren auf unversöhnlichen Standpunkten, die Suche nach Gemeinsamem wird als Niederlage bewertet, es wird geschrien oder geschwiegen. Lösungen? Keine. Themen wie Klima und Energie, Gesundheit oder Westerwelle werden in Deutschland zunehmend polarisiert geführt: Es geht weniger um einen Ausweg, der die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt, sondern um ein binäres Ja/Nein. Nicht die Lösung zählt, sondern allein Sieg und Niederlage - derzeit in der FDP zu verfolgen. So hat Guido Westerwelle kaum eine Chance, sich freiwillig auf den Posten des Außenministers zu konzentrieren - sein Abschied vom Parteivorsitz würde nicht als Triumph der Vernunft, sondern als Niederlage ausgelegt. Wo kurzatmig polarisiert wird, gerät oft der Horizont außer Sicht. Das neue Jahr mit sieben Wahlen ist geeignet, die Amerikanisierung der hiesigen Debattenkultur zu beschleunigen. Dass das Land anders kann, hat der Umgang mit der Krise gezeigt, die die Kanzlerin etwas leichtfertig für beendet erklärt hat. Vor lauter Freude über die bewältigte ökonomische Delle ging nahezu unter, wem diese Leistung zu verdanken ist. Das Instrument Kurzarbeit wirkte, weil sich Staat, Unternehmen und Arbeitnehmer zu einem Gemeinschaftswerk zusammenfanden. Firmen sahen von massenhaften Kündigungen ab, der Staat übernahm einen Teil der Kosten, Millionen Menschen verzichteten vorübergehend auf Teile ihres Einkommens. Auf ein Problem wurde nicht mit Schuldzuweisungen reagiert - wie in der Causa Sarrazin - sondern mit gemeinsamen Werten wie Verlässlichkeit, Loyalität, Teamgeist, die in keiner Bilanz auftauchen, aber zur überraschend schnell wieder gefragten Leistungsfähigkeit im Boomjahr 2010 sicher beitrugen. Die gute Nachricht: Es gibt spezifisch deutsche Lösungswege jenseits plumpen Polarisierens. Die weniger gute Nachricht: Auf Gemeinsames besinnt sich die Mehrheit erst dann, wenn die Angst größer ist als die Lust an der Rechthaberei.
Quelle: BERLINER MORGENPOST