WAZ: Die Grenzen der Neugier
Archivmeldung vom 29.08.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittAcht unvorstellbare Jahre lang lebte Natascha Kampusch in einem Kellerverschlag, abgeschottet von der Außenwelt. Nun bricht die Öffentlichkeit über sie herein, leuchtet mit Scheinwerfern bis in den letzten Winkel ihres Verlieses, und möchte dies am liebsten auch mit der Seele der 18-Jährigen tun.
Die junge
Frau schottet sich erneut ab, flieht vor den Medien, sogar vor ihren
Eltern. Eine verständliche Reaktion, möchte man meinen.
Auf der anderen Seite steht der ebenfalls verstehbare Wunsch der
Menschen, etwas über dieses Schicksal zu erfahren. Es wäre verfehlt,
wollte man den Medien, wollte man der Öffentlichkeit nichts als Gier
auf eine neue Sensation, nichts als billigen Voyeurismus unterstellen
- der, da sollte man sich nichts vormachen, sicherlich auch eine
Rolle spielt. Doch der Fall löst weit mehr aus: Entsetzen über die
achtjährige Normalität des Grauens, Mitleid mit einem Mädchen, das
seiner Kindheit beraubt wurde, Fragen über die Ermittlungsarbeit der
Polizei, Mitgefühl mit den Eltern, denen ihr Kind entrissen wurde.
Es ist schwierig, die richtige Balance zu finden. Eine Balance
zwischen den Interessen der Öffentlichkeit an dem Schicksal einer
Person und den Bedürfnissen des tief verletzten Opfers. Schnell kann
dabei das Pendel der Sympathie umschlagen. Solange sich Natascha
Kampusch in die Opferrolle fügt, wird sie sicher mit einiger Vorsicht
behandelt werden. Sollte sie jedoch beginnen, sich gegen diese
Vereinnahmung zu wehren, wird sich die öffentliche Meinung rasch
gegen sie wenden. Als Susanne Osthoff nach ihrer Befreiung im Irak in
Talkshows auftrat, war es mit dem Mitleid bald vorbei.
Natasche Kampusch - oder ihre Berater - scheinen das zu ahnen.
Daher hat sie sich mit einem Brief an die Öffentlichkeit gewandt. Es
ist der Versuch, selbst zu bestimmen, was sie preisgeben will. Sie
verstehe ja, dass ihr eine "gewisse Neugier" entgegengebracht werde,
schrieb sie in erstaunlicher Untertreibung. Doch möchte sie die
Grenzen selbst setzen. Zugleich aber ist der Brief ein verstörend
intimes Zeugnis, das schockiert, wenn sie sagt: "Ich habe nicht das
Gefühl, dass mir etwas entgangen ist."
Womöglich haben wir uns zu sehr daran gewöhnt, dass Menschen vor
der Kamera freimütig ihr Innerstes nach Außen kehren, dass die Medien
immer tiefer ins Private blicken. Die Selbstentblößung erscheint uns
als Normalfall, der Zuschauer glaubt beinahe, ein Recht auf das
fremde Leben zu haben. Das Schicksal der Natascha Kampusch könnte uns
lehren, dass es Grenzen gibt.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung