"Leipziger Volkszeitung"zum Rücktritt von Horst Köhler
Archivmeldung vom 01.06.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWas für eine Karriere! Vom unbekannten "Horst wer?" über den bürgernahen und beliebten "Super-Horst" zum Aussteiger, wenn nicht gar Absteiger des Jahres. Bei allem Verständnis für Horst Köhlers Verärgerung über die zum Teil maß- und haltlose Kritik an seinen missverständlich-verschlungenen Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und über die mangelnde Schützenhilfe der Kanzlerin, die nichts und niemanden in den eigenen Reihen verteidigt außer sich selbst: So tritt man nicht zurück als Bundespräsident. Übereilt, so, als wäre man der beleidigte Vorsitzende eines Kegelvereins.
Damit schützt man nicht das höchste Staatsamt, sondern beschädigt es. Pflichtgefühl und Staatsräson hätten in Köhler über den aufgestauten präsidialen Frust siegen müssen. Sein Verantwortungsgefühl hätte ihm signalisieren müssen, dass er Deutschland mitten in der Wirtschafts- und Eurokrise nicht auch noch durch Amtsflucht eine Demokratiekrise bescheren darf. Dabei war Köhler eines der besseren Staatsoberhäupter in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein unabhängiger Geist, unbeeindruckt von Denkverboten und Phrasendrescherei des hohlen Politikbetriebes, mit erfreulich wirtschaftlichem Sachverstand. Anders als seine Vorgänger mischte er sich immer wieder vom repräsentativen Chefsessel im Schloß Bellevue aus in die Tagespolitik ein. Damit eckte er an bei abgeschmirgelten Parteipolitikern, was ihn zusehends verunsicherte. So wurde allmählich aus dem erfrischenden Außenseiter eine einsame und dünnhäutige Diva. In seiner zweiten Amtszeit wirkte Köhler angesichts seiner Entfremdung von Opposition und Regierung gleichermaßen zunehmend rat- und sprachlos. Seit dem Ende der großen Koalition gab die SPD jegliche Zurückhaltung dem Amt des Bundespräsidenten gegenüber auf und drosch nach Bedarf auf Köhler ein, der aus dem bürgerlichen Lager nicht mehr die Rückendeckung erhielt, die er sich wünschte. Vielleicht wollte Köhler mit seinem Blitz-Rücktritt ein drastisches Zeichen setzen, mit dem höchsten Staatsamt in Zukunft pfleglicher umzugehen. Die Kritik an ihm war jedenfalls kein hinreichender Grund hinzuschmeißen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung steckt jetzt unvermittelt in der nächsten Krise, der wievielten eigentlich? Merkels und Westerwelles Experiment, einen Nicht-Politiker zum Bundespräsidenten zu machen, ist vorerst gescheitert. Allerdings wäre es fatal, nun wieder nur Karriere- und Sitzfleisch-Strategen zu Bundespräsidenten zu machen. Auch das funktionierte oft nicht. So trat Johannes Rau als ewiger Ministerpräsident in Düsseldorf erst zurück, nachdem ihm das Präsidentenamt als Belohnung versprochen worden war. Endlich ins Amt gehievt, setzte er kaum Akzente. Die Wahl eines neuen Präsidenten wird nun zur Schicksalsfrage der christlich-liberalen Koalition. Ihre Mehrheit in der Bundesversammlung ist knapp, plötzlich ist Geschlossenheit gefragt, die in den vergangenen Monaten fehlte. Finden Merkel und Westerwelle jedoch keinen gemeinsamen Kandidaten, den sie auch durchsetzen, kann das ziemlich schnell das Ende dieser Bundesregierung bedeuten. So, wie umgekehrt Horst Köhlers Wahl der Vorbote dieser Regierung war.
Quelle: Leipziger Volkszeitung