WAZ: Kein Platz für den Redner - Obama und die Nörgler
Archivmeldung vom 22.07.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittObama kommt, Deutschland freut sich. Deutschland? Die Kanzlerin freut sich nicht. Und auch aus den Reihen ihrer Wunsch-Koalition aus Union und FDP vernimmt man nur Verzagtheiten. Das ist schade. Wie viele Gelegenheiten hat es, sagen wir: in den vergangenen paar Jahren, für Deutsche gegeben, einem amerikanischen Spitzenpolitiker zuzujubeln? Wie oft hatten Deutsche und Amerikaner zuletzt die Chance, aufeinander stolz zu sein?
Waren Merkels Einwände gegen einen Auftritt Obamas am
Brandenburger Tor so kleinkariert wie parteitaktisch durchsichtig, so
sind die Nörgeleien des bürgerlichen Spitzenpersonals wegen des
Ersatz-Standorts nur noch peinlich. Obama dürfe an der Siegessäule
nicht auftreten, weil die Adolf Hitler dorthin verfrachtet habe, wo
sie heute steht. Wenn der liberale Vize-Chef Brüderle die Siegessäule
schon für so gefährlich hält, warum hat er dann nicht schon längst
ihre Sprengung verlangt? Ist es neuerdings Ausdruck liberaler
Gesinnung, einem Redner aus dem befreundeten Ausland Vorschriften zu
machen über den Ort, an dem er sprechen darf? Und wenn die Säule eine
derart "unglückliche Symbolik" darstellt, wie der Unions-Vize
Schockenhoff meint, wie konnten es die Konservativen dann nur tonlos
hinnehmen, als eine Million mehrheitlich Jugendlicher seinerzeit bei
der Loveparade in diese ach so braune Versuchung gerieten? Lukas
Podolski darf am Brandenburger Tor reden, Firmen dürfen diesen Ort
sogar zeitweise kaufen, um ihn zu Werbezwecken (!) zu verhüllen, ohne
dass es einen konservativen Aufschrei gegeben hätte über diesen doch
so augenfälligen Frevel an einem National-Denkmal. Aber wenn Obama
dort spricht, dann soll dieses deutsche Denkmal darunter leiden?
Darauf muss man erst einmal kommen.
Wenn Bürgerlichen der Sinn abhanden kommt fürs Populäre - was
soll's -, es ist immerhin die eigene Chance, die sie vertun. Wenn sie
sich aber nicht mehr verständigen können über das, was patriotisch
erforderlich ist, geht es an ihr Selbstverständnis. Wer so
leichtfertig mit seinen Traditionen umgeht, muss sich nicht wundern,
wenn immer mehr Menschen fragen: Wofür steht ihr überhaupt noch?
Was bedeutet es eigentlich, wenn sich 70, 80 Prozent der Deutschen auf diesen Obama freuen, der vielleicht gar nicht Präsident der USA wird? Vielleicht liegt es daran: der Mann liefert ein Mutmacher-Programm, das "unser" verzagtes Berlin schon lange nicht mehr auf dem Spielplan hat. Wäre es so, die Kanzler-amtliche Nörgelei entpuppte sich als bloßer Neid.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Ulrich Reitz)