WAZ: Es ist eben Wahlkampf . . .
Archivmeldung vom 04.01.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittIn Wahlkämpfen wird nun mal geholzt, die Dinge werden vereinfacht, oft jenseits der Vernunft. Im Wahlkampf geht es eben anders zu als im wissenschaftlichen Labor.
Die Parteien suchen ihre Zielgruppen, wollen ihre Wähler
mobilisieren. Wer sie dazu bringt, überhaupt zu wählen, der hat schon
fast gewonnen. Daher macht die SPD die kommenden Landtagswahlen zu
Plebisziten über den Mindestlohn. Der ist prima, finden Zweidrittel
der Deutschen. Die SPD fände es prima, wenn Zweidrittel der Deutschen
sie so gut fänden wie den Mindestlohn. Für die SPD wird die spannende
Frage sein, ob jene, die Mindestlöhne befürworten, sich darum an der
Wahlurne für sie entscheiden. Oder ob sie Mindestlöhne zwar gut,
anderes aber wichtiger finden.
Was der SPD der Mindestlohn, ist der CDU das Erziehungscamp.
Konservativ gleich innere Sicherheit, diese Gleichung funktioniert
seit nunmehr 60 Jahren. Die Kanzlerin hat mit ihrem Nachgeben bei der
Verlängerung des Arbeitslosengeldes und mit der Familienpolitik
Ursula von der Leyens dem liberalen wie dem konservativen Teil der
Union einiges zugemutet, um im Sozialen konkurrenzfähig zur SPD
erscheinen zu können. Das hilft aber dem hessischen Wahlkämpfer Koch
gerade nicht, im Gegenteil. Darum die Erziehungscamps für Ausländer.
Damit weckt er die traditionellen konservativen Reflexe: Wer
Ausländer am liebsten irgendwohin abschieben will, entweder in Camps
oder nach Anatolien, der befriedigt die alte Lebenslüge der Union,
wonach Deutschland kein Einwanderungsland sei. SPD und Grüne
reagieren ebenso reflexhaft (Multikulti ist prima, Ausländer sind
also nicht kriminell, die Gesellschaft ist schuld), tun damit nicht
nur Koch einen Gefallen, sondern pflegen auch die eigenen
Sympathisanten.
Gewiss sind mehr jugendliche Ausländer kriminell als Deutsche.
Und dennoch handelt es sich gerade nicht um ein Ausländer-, sondern
ein Schichtenproblem. Es ist ja richtig, wenn Susanne Gaschke in der
Zeit schreibt, dass Kinder türkischer Professoren, albanischer Ärzte
und griechischer Juristen in der Regel nicht kriminell werden. Das
Thema Verwahrlosung, Perspektivlosigkeit, gewaltbereiter Frust usw.
haben Ausländer nicht für sich gepachtet, das kennt man auch aus
deutschem, sorry: Prekariat.
Wahlkämpfe sind gewiss keine Glanzzeiten für praktische Vernunft.
Aber gerade darum sollte man sich auch nicht kirre machen lassen. Und
alles für bare Münze nehmen, was auf Marktplätzen so erzählt wird.
Gelassen bleiben, oder, wer es mag: cool.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Ulrich Reitz)