Westdeutsche Zeitung: Ypsilanti verliert das hessische Roulette
Archivmeldung vom 07.03.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittAndrea Ypsilanti hätte besser die Homepages aller Landtagsabgeordneten ihrer Fraktion gelesen, bevor sie sich und die SPD in das Abenteuer gestürzt hat, sich von der Linkspartei wählen zu lassen. Die Darmstädter Abgeordnete Dagmar Metzger hat auf ihrer Seite zu Protokoll gegeben, dass sie nichts mehr als die Lüge verabscheue. Nach diesem Maßstab scheint sie nun zu handeln.
Hut ab vor dieser mutigen Parlamentarierin, die unter einem kaum mehr steigerbaren Druck allein ihr Gewissen zur Maxime ihres folgenreichen Handelns macht. Da sich Metzger für den geraden Weg entschieden hat, anstatt erst in geheimer Wahl Ypsilanti das Vertrauen zu entziehen, wird diese aufrechte Frau hoffentlich niemand mehr umstimmen können - auch wenn sie heute noch so sehr in die Mangel genommen wird. Wenn sie standhaft bleibt, bleibt Metzger nicht nur ihrem Gewissen treu: Die Abgeordnete aus der dritten Reihe erweist ihrer Partei den größtmöglichen Dienst. Die Dynamik, die die Nachricht von gestern Abend entfalten wird, ist kaum zu überschätzen. Nachdem der Bann gefallen ist, wird Metzgers Entscheidung unweigerlich andere SPD-Abgeordnete im hessischen Landtag dazu verleiten, den halsbrecherischen Kurs ihrer Parteivorsitzenden zu torpedieren - indem sie ebenfalls das Visier hochklappen oder in dem sie sie bei der Wahl zur Ministerpräsidentin scheitern lassen. Wenn es Andrea Ypsilanti noch schafft, sich dem Rausch der greifbar nahe gewesenen Macht zu entziehen, dann muss sie jetzt handeln: Rücktritt ist das Einzige, was sie für die SPD noch tun kann. Diese Entwicklung würde zwar das hessische Wahlergebnis auf den Kopf stellen, weil die Gewinnerin die Segel streichen muss, während der Wahlverlierer Roland Koch noch immer in der Staatskanzlei sitzt. Für die Bundes-SPD wäre diese Entwicklung aber ein Segen. Die Partei muss die Gelegenheit nutzen, den historischen Fehler von Kurt Beck rückgängig zu machen. Wenn sich die SPD in die Abhängigkeit der Linkspartei begibt, kann sie ihren Anspruch als Volkspartei begraben. Die Frage, ob Beck nur seinen Anspruch auf die Kanzlerkandidatur aufgeben oder auch den Parteivorsitz räumen muss, ist vor diesem Hintergrund nur zweitrangig.
Quelle: Westdeutsche Zeitung (von Friedrich Roeingh)