Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Haiti/Wahlen
Archivmeldung vom 26.11.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittHaiti wählt, Haiti quält. Der Katastrophenstaat erspart seinen zehn Millionen Bürgern kaum eine Plage. Nicht die Wahl am Sonntag, wohl aber die Cholera-Epidemie, die lange Wirbelsturmsaison und 1,5 Millionen Obdachlose seit dem Erdbeben im Januar haben das Land endgültig zu einem permanenten Notstandsgebiet gemacht. Die 19 Präsidentschaftskandidaten versprechen Wiederaufbau, Seuchenbekämpfung und kostenlose Schulen für alle. Damit ist ziemlich genau beschrieben, was versäumt wurde und was, so steht zu befürchten, noch lange auf sich warten lassen wird.
Die Bewerber verteilen Handzettel und kleine Plastikbeutel mit Wasser. Das Papier bleibt liegen, die Tüten führen zu Raufereien. Erst kommt der Durst, dann die Wahl. Auch Jacques Edouard Alexis Alexis, der 2008 nach einer Hungerrevolte als Premierminister zurücktreten musste, traut sich wieder unter das Volk. Sollte er gewinnen, was Kenner für wahrscheinlich halten, würde sich nichts ändern. Das System des scheidenden, nachweislich unfähigen Präsidenten René Préval könnte weitermachen wie bisher. Nicht entscheidend ist, ob angesichts der Cholera überhaupt gewählt werden soll, sondern, wie einem in Ansätzen souveränen Staat von außen geholfen werden kann - selbst wenn das mit sanfter Gewalt zu geschehen hätte. De facto haben die Vereinten Nationen und zahllose Nichtregierungsorganisationen als deren Partner das Heft des Handelns übernommen. Im Kampf gegen den Hunger und für stabile Unterkünfte gelingt das in Maßen. Die Cholera können die Nothelfer dagegen nicht aufhalten. Nach offiziellen Zahlen hat der schwere Brech-Durchfall bis zum 20. November 1400 Menschen das Leben gekostet, mindestens 60 000 sollen sich angesteckt haben. Ausländische Experten schätzen, dass es bereits 200 000 Cholera-Kranke gibt. Den Höhepunkt der Epidemie taxieren sie auf 400 000 in drei Monaten. Die bittere Erkenntnis: Noch viele Menschen werden erkranken und ohne Chance auf Behandlung sterben. Dabei braucht es nur sauberes Wasser, Salze und Antibiotika - hierzulande kein Problem, in Haiti eine Frage von Leben und Tod. Wer am Sonntag Präsident wird ist weniger entscheiden, wohl aber, dass danach staatliches Handeln beginnt. Erst wenn die Abwasserkanäle vom Müll befreit sind und die Wasserversorgung einigermaßen klappt, wird der Erreger zurückgedrängt. Lange kann die Weltgemeinschaft nicht mehr warten, bis Haiti wieder auf eigenen Beinen steht. Millionenschwere Hilfsgelder werden aus guten Gründen zurückgehaltenen. Sie drohen zu versickern oder unterschlagen zu werden. Die internationale Gemeinschaft sollte dem künftigen Präsidenten klare Entwicklungsvorgaben gekoppelt an die Auszahlung von Hilfen machen. Ja. das hat mit Bevormundung zutun, allerdings auch mit Fürsorge.
Quelle: Westfalen-Blatt