WAZ: Rentenstreit in der CDU
Archivmeldung vom 25.04.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEine gewisse Unschärfe kann vorteilhaft wirken. Angela Merkel hat lange davon profitiert, dass die Republik sich vom politischen Gebrüll der Gerhard Schröders und Joschka Fischers erholen wollte. Ihre stille Ausstrahlung wirkte beruhigend, der Großen Koalition angemessen und im guten Sinne überparteilich.
Zwischen Reformgeräuschen und Zumutungen hatten sich die meisten Menschen eingerichtet, unbequem zwar, aber dem von der Politik formulierten Prinzip ergeben, dass man sich erst bescheiden müsse, damit später alles gut werde.
Für Merkel, die vor allem auf der Weltbühne brillierte, war die
erste Hälfte ihrer Amtszeit ein Erfolg. Im November aber zog sie eine
gefährliche Zwischenbilanz: "Der Aufschwung kommt bei den Menschen
an." Schlagartig empfanden sehr viele Menschen, dass der Aufschwung
bei ihnen nicht ankomme. Seither ist die Diskussion darüber in der
Welt, und indem Merkel der jüngsten Rentenerhöhung zustimmte,
erweiterte sie absichtslos die Debatte.
Nun steht das Thema "Gerechtigkeit" im öffentlichen Raum.
Menschen haben sich in der Hoffnung auf bessere Zeiten eingerichtet
und fragen jetzt: So nichtig fühlt sich der Aufschwung an? Was droht
erst bei einem Abschwung? Die Mehrheit der Bürger reagiert
verunsichert auf Studien, nach denen immer mehr Arbeitnehmer immer
weniger verdienen, während die oberen Zehntausend immer mehr Vermögen
anhäufen.
Es ist kein Zufall, dass Merkels alte Rivalen jetzt gleichzeitig
auftreten. Jürgen Rüttgers, Christian Wulff und Friedrich Merz
verfügen über ein gutes Gespür für Unwuchten. Sie spüren, dass es in
ihrer Partei eine Sehnsucht nach Orientierung gibt, denn mit Merkels
Unschärfe geht auch ein schleichender Identitätsverlust einher.
Gerhard Schröder griff die Identität seiner SPD mit der Reformpolitik
relativ gewalttätig an, in der CDU erodiert etwas. Noch kann die
Vorsitzende vielleicht abwarten. Aber die Frage nach ihrem Standpunkt
wird lauter, insbesondere wenn sich der Eindruck verdichtet, dass der
Ministerpräsident von NRW zusehends den Kurs der CDU prägt.
In dessen Mindestrente für Geringverdiener verbirgt sich überdies
das hohe Risiko der Erkenntnis: Rüttgers will zwar die Altersarmut
bekämpfen, nicht aber die Alltagsarmut. Hungerlöhne bis zur Rente
nimmt er hin, erteilt sogar Unternehmen eine Art Freibrief: Zahlt
ruhig schäbig, die (kleine) Rente ist sicher. Die SPD will mit
anständig entlohnter Arbeit gegen Altersarmut vorsorgen. Was aber
sagt Merkel zu dieser großen sozialen Herausforderung?
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Angela Gareis)