Lächeln Grinsen
Paul Clemente schrieb die folgende lyrische Beobachtungsstelle: "Schon mal alte Fotos studiert? Mit „alt“ meine ich nicht Dias aus den Siebzigern, sondern Daguerreotypien aus dem 19. Jahrhundert. Nein, keine Landschaftsaufnahmen, sondern Ablichtungen von Personen. Was fällt da auf - abgesehen von Differenzen bei Kleidung und Frisur? Richtig: Die Fotografierten, sie lachen nicht. Sie schauen todernst. Ob Singles, Ehepaare oder ganze Familien. Manchmal wirkt der Blick sogar finster. In jedem Falle ist er frei von grundlosem Grinsen. Damit setzten frühe Fotografen die Porträtmalerei fort. Auch alte Ölschinken zeigten die Gesichter ernsthaft. Ebenso Büsten oder Statuen - egal, ob fiktiv oder nach Modell gefertigt. Selbst ein glückliches Gesicht, wie die Schaukelnde von Fragonard: Ihr Gesicht leuchtete, aber sie lachte nicht."
Clemente weiter: "Eine der wenigen Ausnahmen im Bereich der Fotografie ist – ausgerechnet! - der pessimistische Philosoph Arthur Schopenhauer. Der hat auf einem Foto tatsächlich gelacht. Eine gigantische Leistung: Schließlich musste man zehn Minuten in absoluter Leichenstarre verharren, bis die Fotoplatte ausreichend belichtet war.
Die Knipskiste war strenger als jeder Porträtmaler. Erst im 20. Jahrhundert wendete sich das Blatt. Und heute? Wer sich heutzutage fotografieren lässt, ist zum Grinsen, zum Lächeln verdonnert. Das lachende Gesicht; Es wird nicht bloß zugelassen, sondern verlangt: „Komm, sag mal Cheese“ – betteln Fotografen, wenn Kindern bei Familienaufnahmen nicht zum Lachen zumute ist. Eine Grinsverweigerung gilt vielerorts als unhöflich. Aber weshalb die krampfhafte Behauptung, dass es einem gut gehe? Egal, ob es zutrifft oder nicht: Woher diese Pflicht zum Glücklich sein?...[weiterlesen]
Quelle: apolut