DER STANDARD-Kommentar "Von der Euro- zur Europa-Krise"
Archivmeldung vom 10.12.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Geschichte vom ungehorsamen Schüler, seiner Zuchtmeisterin und ihrem Dackel konnte nicht gut ausgehen. David Cameron hat seine Aufmüpfigkeit mit einer weitgehenden Isolation Großbritanniens bezahlt. Angela Merkel hat ihr Ziel einer EU-Vertragsänderung nicht erreicht und steht vor einem europapolitischen Scherbenhaufen. Nicolas Sarkozy hat auftragsgemäß für das Frauchen gebellt, ansonsten spielt die Grande Nation auf dem EU-Parkett keine bedeutende Rolle. Nach einem zweitägigen EU-Gipfel, der von den Europaspitzen selbst pathetisch zum Schicksalstag oder zur letzten Chance für die Währungsunion hochstilisiert wurde, bleibt vor allem der Eindruck, dass viel Porzellan zerschlagen wurde. Manche orten sogar eine tiefe Spaltung. War es das wert?
Nein. Großbritannien ist, auch wenn das viele nicht gerne hören wollen, ein Kernland der Union. Wirtschaftlich voll integriert, in Brüssel mit Top-Personal präsent und außenpolitisch ohnehin ein Spitzenplayer, kann die Abnabelung Londons nur als schwerer Verlust für Europa gewertet werden. Gewiss: Es war schäbig von Cameron, sich in der Notsituation der Eurozone Extrawürste herauspressen zu wollen. Doch: Jedes Land nervt Europa mit nationalen Sensibilitäten, daran sollte insbesondere Österreich mit seiner Gentechnik- und Atomkraft-Hysterie erinnert werden. Wäre es wirklich um ein großes Projekt zur tieferen Integration der Union gegangen, das London blockiert hätte, könnte man durchaus argumentieren: Bevor sich die Mehrheit von einer Minderheit ständig bremsen lässt, soll eine Avantgarde vorauseilen und die Zusammenarbeit verstärken. Aber: Die nun beschlossenen Änderungen sind alles andere als ein großer Wurf. Unzweifelhaft dienen die Maßnahmen zur schärferen Haushaltskontrolle zwar der notwendigen Erhöhung der Stabilität. Doch die Verbesserungen wären auch ohne Vertragsänderungen machbar, der Konflikt mit London somit vermeidbar gewesen. Es war ja ausgerechnet Sarkozy, der beim Strandspaziergang mit Merkel in Deauville automatische Sanktionen gegen Defizitsünder verhindert hatte und nun den Schwanz einziehen musste. Dazu kommt, dass das Gerede von einer Fiskalunion völlig fehl am Platz ist. Dazu gehörten nämlich eine zentrale Kompetenz für Steuereinnahmen und Ausgaben, eine Steuerung der Löhne, eine gemeinsame Beschäftigungs- und Sozialpolitik und vor allem: starke Institutionen, mit einem deutlich aufgewerteten Parlament, einem "Senat" als Länderkammer und einer Kommission als echter EU-Regierung. Das alles, gepaart mit einem umfassenden Konvent und einer europaweiten Volksabstimmung, wäre es wert, London bei einer Blockade an den Rand zu drängen. So ähnlich beschrieb es ja auch die "Krönungstheorie", nach der die Währungsunion der politischen Union vorausgeht. Nun ist nicht viel von tieferer Integration zu erkennen, die letztlich die einzige Rettung für den Euro sein kann. Aus der Euro- wurde eine EU-Krise. Selbst die stärkere Haushaltskontrolle muss nun außerhalb der Verträge erfolgen. Die Währungsunion bleibt somit Stückwerk, weshalb der nächste "Schicksalstag" für die Staats- und Regierungschefs nur eine Frage der Zeit ist. Der aufmüpfige Schuljunge wird sich auf seine Insel zurückziehen und dort feiern lassen. Die Zuchtmeisterin hat im Wesentlichen Schmerzen, der Dackel Lärm verursacht.
Quelle: Der Standard (ots)