Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Kurswechsel von Hannelore Kraft
Archivmeldung vom 18.06.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittRein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln: SPD-Landesvorsitzende Hannelore Kraft weiß nicht, wie sie den Beinahe-Wahlsieg vom 9. Mai umsetzen soll. »Wir agieren aus dem Parlament heraus«, erklärte Kraft tagelang in den Medien und vor ihren Genossen. Eilig waren Hunderte Parteibuchinhaber zu Regionalkonferenzen zusammengetrommelt worden, um den Kraftkurs contra jede Koalition abzusegnen. 100 Prozent Zustimmung habe sie erhalten, sagte Kraft voller Stolz im WESTFALEN-BLATT-Interview.
Nicht Ministersessel und Dienstwagen zählten, »das ist für uns eine Frage der Glaubwürdigkeit«, verkündete Kraft noch gestern in einem Interview. Und: »eine Minderheitsregierung wäre keine dauerhaft stabile Situation.« Seit gestern Mittag gilt das Gegenteil. Ein Interview von FDP-Landeschef Andreas Pinkwart muss als Feigenblatt für den flotten Meinungswechsel herhalten. Dessen wortreiche Beschwörung des Nichts, die »Verpflichtung zum Konsens« zwischen CDU und FPD sei »ausgelaufen«, soll die SPD zur Minderheitsregierung zwingen! Lächerlich. Nein, die erste Kraftprobe ist schon verloren, bevor Kraft überhaupt angefangen hat. Zwei echte Gründe für die Wende: 1. SPD-Chef Sigmar Gabriel will in Berlin endlich mitregieren. Er giert nach den sechs NRW-Stimmen im Bundesrat, egal ob Kraft eine Chance auf stabile Machtverhältnisse hat oder verheizt wird. 2. Die Grünen, die am 9. Mai im Gegensatz zur geschwächten SPD sechs Punkte dazu gewonnen hatten, machten seit Tagen Druck. Erst drängte Berlin auf eine Minderheitsregierung, dann meldete sich auch Fraktionschefin Sylvia Löhrmann, Krafts einzige (und sträflich vernachlässigte) Partnerin. Der morgige Landesparteitag der Grünen wäre für weitere grüne Giftpfeile gut gewesen. Kraft ist eine Getriebene, bevor für die frühere Pfadfinderin das Abenteuer Ich-suche-mir-eine-Mehrheit begonnen hat. Dabei wollte sie das undankbare Spiel eigentlich Jürgen Rüttgers überlassen. Im Gegensatz zum CDU-Landeschef droht Kraft mit 90 von 181 Stimmen auch noch die linksaußen aufgestellte Falle. Hannelore Kraft kann ihre künftige Regierungsform nennen, wie sie will, sie regiert mindestens mit Duldung der Linken. Je länger sie sich hält, um so mehr verfestigt sich Rot-Rot-Grün in NRW. Kraft hat keinen Einfluss auf das Verhalten der Linkspartei: Wenn Rot-Grün demnächst Kopfnoten abschafft oder ein Mindestlohngesetz beschließt, werden die Linken voller Freude mitstimmen. Mehr noch: Kraft dürfte deren liebevolle Umarmung bereits bei der Wahl zur Ministerpräsidentin spüren. Ob sich Dunkelrot im vierten Wahlgang enthält oder ob die SPD-Landeschefin gleich im ersten Wahlgang mit links gewählt wird: Der Sündenfall wird ihr dauerhaft anhängen.
Quelle: Westfalen-Blatt