Berliner Morgenpost: Im Trippelschritt durchs Schildkrötenland
Archivmeldung vom 26.10.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDeutschland ist eine Schildkröte. Unterm Schutzpanzer liegt ein sensibles Inneres, das Veränderungen nicht besonders schätzt. Schwerfällig bewegt sich Schildkröten-Deutschland voran, mit kleinen Schritten, ohne dass eine Richtung zu erkennen wäre. Sprünge macht das Tier nur, wenn Panik aufkommt oder die Erde bebt. "Kleine Schritte", so lautete das Motto der ersten Regierung Merkel 2005.
Die neue Regierung schildkrötet einfach weiter. Langsamkeit ist ein Kontinuum deutscher Politik, stets begleitet vom Gemaule darüber. "Fehlstart" bemängelt derzeit der "Spiegel", der 1998 nach der Wahl titelte: "Alles wird anders - aber wird es auch besser?", 2002 die "Blockierte Republik" kritisierte und 2005 besorgt weissagte, dass die Kanzlerin ohnehin nichts zu sagen habe. Die Diagnose, alles gehe den Bach runter, bei Rot-Grün ebenso wie bei Schwarz-Rot oder Schwarz-Gelb, hat etwas unglaublich Beruhigendes. Denn dann bleibt alles noch ein Weilchen so wie immer. Faszinierend, mit welch rührender Naivität sich manche Eliten immer wieder am Mythos vom großen Wurf berauschen. Steuererklärung auf Bierdeckeln, Pisa-festes Bildungssystem, Bürgergeld - alles prima, aber im Schildkrötenland illusorisch. Politik balanciert hier auf dem Grat zwischen Bürgerzorn und medial gestützter Hysterie, zwischen ökonomischen Zwängen und Parteilogik. Hektische Bewegungen bedeuten sicheren Absturz. Angela Merkel hätte die Wahl 2005 fast vergeigt, weil ihr Finanzexperte Paul Kirchhof ein neues, einfaches Steuersystem ankündigte. Gerhard Schröder wurde abgewählt, weil er Hartz durchsetzte. Helmut Kohl dagegen blieb auch deswegen 16 Jahre im Amt, weil er Veränderungen vermied und sogar 1990 die Chance zur Reform der Sozialsysteme ausließ. Dabei öffnete die Einheit eines jener seltenen Möglichkeitsfenster, in denen das Land bereit ist, größere Veränderungen mitzumachen. Bedeutende Reformen entstehen fast nie im Alltag, sondern immer in den raren Wochen von Angst oder Aufregung, wenn Emotionen stärker sind als zementierte Abläufe. Die Hartz-Gesetze waren nur machbar, als die Bundesanstalt für Arbeit mitten in einer Haushaltskrise in einen wüsten Skandal um falsche Zahlen verwickelt war. Schilys "Otto-Kataloge", bedenklich weitreichende Sicherheitsgesetze, waren wie der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan nur in der Folge von "9/11" zu realisieren. In den Wochen der Bankenkrise stand das Reformfenster ebenfalls weit offen. Doch Merkel/Steinbrück haben größere Korrekturen nicht einmal in Betracht gezogen. In der historischen Rückschau werden Kohls Zaudern 1990 und Merkels Trippelei Ende 2008 wohl als politische Unterlassungssünden ähnlicher Güte gewertet. Beide hätten Sprünge machen können, beließen es aber beim Schildkrötengang. Schröder dagegen sprang, um den Preis des Untergangs allerdings. Paradox, aber wahr: Keine Krise ist derzeit groß genug, um Schwarz-Gelb zu Reformpolitik zu bewegen. Wie immer marschiert die Schildkröte vorerst langsam weiter.
Quelle: Berliner Morgenpost