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Westdeutsche Zeitung: Die zerstörten Weltbilder des Westens

Archivmeldung vom 23.02.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 23.02.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Wer in den vergangenen Tagen nüchtern die deutschen Medien verfolgte, rieb sich verwundert die Augen: Wie konnte es sein, dass die Doktorarbeit eines Ministers sämtliche Debatten bestimmte, während der Aufbruch Arabiens fast schon zur Marginalie verkam? Die Dissertation des Herrn zu Guttenberg wird in fünf Jahren vergessen sein; die gegenwärtigen Umwälzungen im Nahen Osten hingegen entfalten erst dann ihre historische Wirkung.

Die Unruhen sind die Initialzündung eines gewaltigen Modernisierungsschubs, der in seiner Dimension an den Kollaps des kommunistischen Herrschaftssystems in den 1980er Jahren erinnert. Wir verdrängen die weltpolitische Bedeutung der arabischen Revolutionen nur allzu gern, weil deren Bilder befremden und verunsichern: Es sind Bilder, die lang gehegte Vorurteile über den Orient zerstören. Spätestens seit den Terror-Anschlägen vom 11. September 2001 hatten wir den islamischen Kulturkreis als Teil der zivilisierten Welt abgeschrieben. Der Orient erschien als eine von der Aufklärung vergessene Weltzone, deren Protagonisten geistig im Mittelalter verharren, Frauen steinigen und der Moderne wütend den Dschihad erklären. Der Orient galt als Region der Diktatoren, die im Idealfall mit dem Westen paktieren, ihm Öl verkaufen und ansonsten ihre impulsiven Völker mit eiserner Hand unter Kontrolle halten. Nun lässt al-Gaddafi seine Bevölkerung mit Kampfjets bombardieren, und die Regierungen des Westens müssen schockiert erkennen, was sie fast zehn Jahre lang verdrängt haben - ihr Verbündeter ist "Hundert Prozent krank im Kopf", wie Ägyptens Präsident al-Sadat schon 1982 warnte. Auch nehmen wir verwirrt zur Kenntnis, dass es sich bei den angeblich so rückständigen Demonstranten in Ägypten, Tunesien, Bahrain und Libyen keinesfalls um einen wilden Mob handelt, sondern um westlich gekleidete junge Menschen, die das Internet perfekt beherrschen und selbstbewusst ihre Bürgerrechte einfordern. Der Mythos vom mittelalterlichen Orient liegt in Trümmern. Nun wird es Zeit, sich mit der vielschichtigen Realität Arabiens ehrlich auseinanderzusetzen - ohne dass Vorurteile und eine unglückselige Doktorarbeit den Blick darauf verstellen.

Quelle: Westdeutsche Zeitung

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