Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Gefangenenaustausch
Archivmeldung vom 18.10.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWenn Israel einen einzigen Soldaten gegen insgesamt 1037 palästinensische Gefangene austauscht, erscheint dieser Deal zunächst unverständlich. Denn viele der befreiten Palästinenser sind berüchtigte Mörder und Terroristen. Doch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu weiß, was er tut: Er will einen Keil zwischen den gemäßigten Mahmoud Abbas und die radikal-islamische Hamas treiben und somit zusätzlich verhindern, dass Abbas die Gründung des Staates Palästina durch die UNO legitimiert.
Was zunächst als Gefälligkeit aussieht, ist reines Machtkalkül. Innenpolitisch hatte Netanjahu keine Wahl: Israel folgt einem religiösen und politisches Gebot, jeden Juden aus einer Geiselhaft zu befreien. Schon im Mittelalter missbrauchten deutsche Fürsten diesen Grundsatz, um Lösegelder zu erpressen. Netanjahu musste zwischen jüdische Moral und dem Grundsatz wählen, terroristischen Erpressungen nicht nachzugeben. Da die meisten Israelis und Minister den Soldaten Gilad Shalit befreien wollen, hat Netanjahu nachgegeben. Das hat ihn politisch aufgewertet. Auch die anti-israelische Hamas erscheint zunächst als Sieger bei diesem ungleichen Deal. Doch sie sollte sich nicht zu früh freuen: Sie hat ihre Maximalforderungen nicht durchgesetzt, und viele der Freigelassenen werden ins Ausland abgeschoben oder dürfen nicht nach Palästina zurückkehren. Wer dennoch in den Gaza-Streifen heimkehrt, soll durch scharfe israelische Kontrollen am Terrorismus gehindert werden. Zumindest hoffen dies viele Israelis. Netanjahu muss sich beeilen, den arabischen Frühlings zu nutzen: Da sich die Hamas gegen den syrischen Diktator Hafis Assad stellt, hat sie die Unterstützung aus dem Iran verloren. Nun hofft sie auf Hilfe durch die ägyptischen Muslimbrüder. Netanjahu will schnell handeln - denn sollte Ägypten nach der kommenden Wahl einen anti-israelischen Kurs einschlagen, könnte es für den Soldaten Shalit zu spät sein. Das hat der israelische Ministerpräsident rechtzeitig erkannt. Sein Schachzug ist klug und pragmatisch. Dass er dabei die Hamas zunächst aufwertet, kann er verkraften: Noch bleiben mehr als 7000 palästinensische Gefangene in israelischer Hand. Obendrein fällt die Hamas bei ihren Anhängern zunehmend in Ungnade: Ihr anti-israelischer Kurs hat die Gründung des Staates Palästina verhindert; immer mehr Palästinenser wünschen sich einen eigenen Staat und rücken von der kompromisslosen Hamas ab. Leider kann Frieden nicht entstehen, solange die Grundprobleme des israelisch-palästinensischen Konfliktes ungelöst bleiben. Beide Seiten müssen nachgeben - bei den illegalen jüdischen Siedlungen, der Hauptstadt Jerusalem und der palästinensischen Staatsgründung. Der Austausch mag ein wenig Hoffnung bringen, der Grundkonflikt wird nicht entschärft.
Quelle: Westfalen-Blatt (ots)