Westdeutsche Zeitung: Kate und William haben geheiratet
Archivmeldung vom 30.04.2011
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 30.04.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEs waren 0,4 Sekunden, im zweiten Versuch etwas mehr: Man mochte mit noch so viel analytischem Verstand über die Länge des Hochzeitskusses und seine Bedeutung für das Liebesleben des Paares sinnieren - Kate und William gingen gestern nicht daran, mit Ungestüm die Marke Windsor zu revolutionieren.
Da hat sich Walter Bagehot eben geirrt. Der britische Verfassungstheoretiker behauptete im 19. Jahrhundert, Monarchien seien im Gegensatz zu Republiken aufregende Angelegenheiten. Spätestens seit Silvio Berlusconi in Italien Bunga-Bunga-Partys veranstaltet und Frankreichs Präsidentengattin Carla Bruni heißt, wissen wir, dass das Gegenteil durchaus der Fall sein kann.
Dennoch bohrt sich in Anbetracht der nationalen Glückseligkeit jenseits des Kanals ein alter Phantomschmerz in die deutsche Seele: Fehlt uns was? Wäre nicht eine schrullige Königsfamilie immer noch besser als ein Bundespräsident, der nach viel parteipolitischem Gezerre ins Bellevue darf? Wäre der Respekt vor der politischen Klasse nicht größer, wenn ihr formal ein gekröntes Haupt vorstände?
Ja, die Deutschen tun sich schwer mit Symbolen, in denen sich Patriotismus und Zusammenhalt manifestieren. Noch während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 fragte sich manch einer, ob das schwarz-rot-goldene Farbenmeer angesichts unserer Geschichte nicht ein ungeheuerlicher Frevel sei.
Dabei hat sich das moderne Deutschland längst seine eigenen Mythen geschaffen. Allerdings eignen sie sich nicht als Futter der Klatschindustrie, weil sie nicht aus Fleisch und Blut sind: Das Wirtschaftswunder ist einer dieser Mythen, die Wiedervereinigung ein anderer.
Gegen deren Aktualität erscheint das Londoner Spektakel wie die Auferstehung einer untergegangenen Spezies. Die royalen Rituale spiegeln die stolze Vergangenheit des Empires wider, aber auch den Irrglauben, als Nation noch immer eine Ausnahmestellung zu besitzen. Es ist diese Verwurzelung in der Welt von gestern, die Großbritannien den Weg nach Europa versperrt.
Aber wir sollten Milde walten lassen. Denn ledige Royals gingen bis ins 20. Jahrhundert regelmäßig erfolgreich auf Partnersuche in Deutschland, und deshalb gilt: Wir sind doch alle ein bisschen Windsor.
Quelle: Westdeutsche Zeitung