Westdeutsche Zeitung: Merkel wirkt erstmals wie eine Getriebene
Archivmeldung vom 19.05.2012
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Zeiten sind schlecht für Angela Merkel. Das waren sie freilich schon häufiger. Aber bisher erweckte die Bundeskanzlerin dabei immer den Eindruck, die Fäden auch in größten Turbulenzen in der Hand zu halten. Diesmal hingegen wirkt sie wie eine Getriebene. Die Wahlen in Frankreich, Griechenland und Nordrhein-Westfalen haben das Gegenteil von dem erbracht, was Merkel sich erhofft haben dürfte.
Der europäische Gleichschritt mit Frankreich droht aus dem Takt zu geraten, seit der Sozialist François Hollande den konservativen Nicolas Sarkozy aus dem Elysée-Palast verdrängt hat. Und das Erdbeben von Düsseldorf erschüttert das Kanzleramt seit fast einer Woche heftig. Während Merkel solche Krisen in der Vergangenheit souverän lächelnd ignorierte, sieht sie sich diesmal zum Handeln gezwungen. "Madame Non" wird offenbar "Madame Oui", wenn es um Wachstumshilfen für die Pleitestaaten in der EU geht. Und innenpolitisch ist ihr Bundesumweltminister Norbert Röttgen ein erstes Opfer. Der war im NRW-Wahlkampf an eigenen Schwächen und Fehleinschätzungen gescheitert. Doch Merkel stärkte ihm zunächst den Rücken. Denn eigentlich brauchte sie Röttgen als Moderator der Energiewende. Und sie brauchte ihn als Fingerzeig für die Grünen, dass mit der Union Koalitionen auch auf Bundesebene möglich sein können. Dass nun ausgerechnet der divenhafte CSU-Chef und bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer die Kanzlerin zwingen konnte, Röttgen zu entlassen, zeigt, wie geschwächt Merkel ist. Zwar hat sie in Peter Altmaier schnell einen loyalen Nachfolger gefunden. Gleichzeitig aber brachte sie den größten CDU-Landesverband gegen sich auf. Die Christdemokraten an Rhein und Ruhr werden trotz ihres desolaten Zustandes nicht hinnehmen, dass nun keiner der ihren mehr am Kabinettstisch in Berlin Platz nehmen darf. Die Zeiten sind wahrlich schlecht für Angela Merkel und für ihre Regierung, schlechter denn je. Die Kanzlerin angeschlagen, die Union zerstritten, der Koalitionspartner im Überlebenskampf - spätestens in knapp anderthalb Jahren wird der Bundestag neu gewählt. Derzeit sieht es so aus, als hätte am vergangenen Sonntag in Nordrhein-Westfalen die nächste deutsche Kanzlerdämmerung begonnen.
Quelle: Westdeutsche Zeitung (ots)