WAZ: Debatte um die "Unterschicht"
Archivmeldung vom 17.10.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittVor einer Woche warnte SPD-Chef Kurt Beck vor einem Unterschichten-Problem in Deutschland, und wenige Tage danach holte man Kevin aus dem Kühlschrank.
Weil in diesem traurigen Fall die
Wirklichkeit die Analyse sofort bestätigt hat, diskutiert die Politik
jetzt parteiübergreifend über Menschen, die am Rande der Gesellschaft
leben. Es zählt zu den unschönen Reflexen, dass zunächst ein Streit
über die Frage inszeniert wird: Darf man Unterschicht sagen?
Es gibt in Deutschland immer mehr Menschen, die äußerlich und
innerlich verwahrlosen und denen am Ende des sozialen Abstiegs das
Leben anderer so egal ist wie das eigene. Soll man für sie Worte
finden, die das Elend und die ganze Hoffnungslosigkeit elegant
umkleiden wie Volker Kauders "Menschen mit sozialen und
Integrationsproblemen"?
Diese Menschen sind herausgefallen aus der Leistungsgesellschaft,
in der die Karriereleiter immer nach oben führen muss bis zu
Millionengehältern, die sinnvoll niemand verwenden kann, außer als
Beleg dafür, es verdammt weit gebracht zu haben. Andere, so genannte
"Mitbürger mit Migrationshintergrund", sind gar nicht erst
hineingekommen in diese Gesellschaft.
Und statt sich grundsätzlich zu fragen, was das eigentlich für
eine Gesellschaft ist, die Menschen einfach abhängt, die Kindermangel
beklagt und zugleich Millionen Kinder im Stich lässt, sucht man nach
wohlklingenden Umschreibungen. Harald Schmidts Provokation wäre
vermutlich ungehört verhallt, wenn er von
"Menschen-mit-sozialen-und-Integrationsproblemen-Fernsehen"
gesprochen hätte.
Die Realität zu erkennen bedeutet auch, sie schonungslos zu
benennen, und nur weil der Begriff "Unterschicht" so hart klingt, ist
er doch überhaupt ins Bewusstsein derer gedrungen, die nicht am Rand
oder schon außerhalb dieser Gesellschaft leben müssen. Menschliches
Miteinander, Konflikte, Liebe, Abgründe - das alles wird Menschen
heute im Unterschichten-Fernsehen geboten. Und sehr viele konsumieren
es, weil sie an irgendeinem sozialen Leben teilhaben wollen, und sei
es aus zweiter Hand.
Diesen Menschen wird niemand zu einem echten sozialen Leben verhelfen können, außer denen, die eines haben. Damit die auch begreifen, worum es geht, darf oder muss man vielleicht von Unterschicht sprechen. Der Beweis dafür ist die Diskussion selbst, die erst jetzt, nach Jahren der Massenarbeitslosigkeit, geführt wird.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung