WAZ: Gabriel hat es gelesen, Merkel nicht
Archivmeldung vom 21.09.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittIn diesen Tagen ist ein Unterschied deutlich geworden zwischen Angela Merkel und Sigmar Gabriel. Die Kanzlerin, die an der Entlassung Thilo Sarrazins als Bundesbanker mitwirkte, hat gleichwohl sein Buch nicht gelesen. Bis heute nicht, sie will es auch nicht mehr lesen. "Es ist alles gesagt", sagt sie. Das ist es aber ganz entschieden nicht. Im Unterschied zu Merkel hat der SPD-Chef, dem man gern allerhand Flüchtigkeit nachsagt, Sarrazins Buch inzwischen wenigstens gelesen. Mehr als das: Er hat sich ernsthaft und intellektuell damit auseinandergesetzt. Eine ganze Seite in der Hamburger Zeit hat er vollgeschrieben und detailliert begründet, weshalb er Sarrazin nicht mehr in der SPD sehen möchte.
Er hat differenziert zwischen dem Teil, in dem sich Sarrazin mit der mangelnden Integration bestimmter Gruppen von Muslimen auseinandersetzt und der einen Rauswurf weder aus der SPD noch der Bundesbank rechtfertige, und dem Teil, in dem Sarrazin die eugenische Debatte wiederzubeleben versucht und den Gabriel völlig zu Recht eine "ungeheure intellektuelle Entgleisung" nennt. Die Kanzlerin argumentiert, sie habe die Vorabdrucke gelesen im Spiegel und in Bild, die seien, wie sie der FAZ sagte, "überaus aussagekräftig" und "vollkommen ausreichend", um schon zwei Tage nach deren Erscheinen zu urteilen, Sarrazins Buch sei "nicht hilfreich". Damit gab sie, wie kurz darauf der höchste Mann im Staat, Sarrazin zum beruflichen Abschuss frei. Demgegenüber stellt FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher fest, dass diese Vorabdrucke harmlos gewesen seien, die Darwin-Passagen über die Selektion von Menschen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten suche man vergebens. Damit ist Folgendes gesagt: Die Kanzlerin urteilt über einen Repräsentanten einer anderen herausragenden Institution des Staates, ohne sich mit ihm wirklich auseinandergesetzt zu haben. Und sie tut das auf der Basis einer unzulänglichen Lektüre, mit anderen Worten: leichtfertig und machtarrogant. Es ist aber eben jene Arroganz der Macht, die gerade viele Menschen kirre werden lässt. Kühle Entscheidungen, begründet ausschließlich mit institutioneller, nicht mit intellektueller Gewalt. Merkels enge Vertraute von der Leyen hat vor kurzem im Radio im Duktus der Empörung erklärt, auch sie werde dieses Buch nicht lesen. Wie will sich die Ministerin für Arbeit eigentlich auseinandersetzen mit jenen 650 000 Menschen, die Sarrazins Buch gekauft haben? (Bald werden es mehr als eine Million sein.) Sarrazins Buch ist hochproblematisch. Aber Merkels und Wulffs Umgang damit untergräbt jene Debattenkultur, von der Demokratie lebt.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung