WAZ: Attentat und Entführungen
Archivmeldung vom 10.07.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 10.07.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittFast scheint es so, als habe sich alles gegen den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan verschworen. Für die türkische Regierung könnte das Attentat auf das amerikanische Konsulat in Istanbul dabei besondere politische Brisanz entwickeln.
Schon nach den blutigen Anschlägen islamistischer
Selbstmordattentäter vom November 2003 versuchten manche, dem
gewendeten Fundamentalisten Erdogan eine moralische Mitverantwortung
für den Terrorakt anzulasten. Sollte sich nun herausstellen, dass
wieder Attentäter aus Fundamentalisten-Zirkeln am Werk waren, wäre
das jetzt, auf dem Höhepunkt des Machtkampfs in der Türkei, ein
gefundenes Fressen für Erdogans Gegner.
Ohnehin steht das innenpolitische Barometer auf Sturm: Erdogan
kämpft um sein politisches Überleben. Das Verfassungsgericht in
Ankara verhandelt zurzeit über ein Verbot seiner
islamisch-konservativen AK-Partei. Der türkische Generalstaatsanwalt
will sie wegen angeblicher "Aktivitäten gegen die säkulare
Staatsordnung" verbieten und Premier Erdogan sowie weiteren 70
Regierungspolitikern für fünf Jahre jede parteipolitische Betätigung
untersagen lassen. Ein Verbot der Regierungspartei, die im Sommer
2007 mit 47 Prozent der Wählerstimmen bestätigt wurde, könnte die
Türkei in eine Staatskrise stürzen - wenn die nicht längst da ist: In
der vergangenen Woche wurden in mehreren türkischen Städten 21
Regierungsgegner festgenommen. Sie sollen der Untergrundorganisation
"Ergenekon" angehören, die angeblich mit inszenierten Massenprotesten
und Mordanschlägen einen Militärputsch provozieren wollte.
Unter den Festgenommenen, die in Untersuchungshaft sitzen, sind
auch zwei ehemalige Vier-Sterne-Generäle - das hat es in der
Geschichte der türkischen Republik noch nicht gegeben. Damit spitzt
sich der Machtkampf Erdogans mit der kemalistischen Elite und den
Militärs dramatisch zu.
Während die Ermittler zu klären versuchen, ob es Zusammenhänge
zwischen dem Blutbad vor dem Istanbuler US-Konsulat und der
"Ergenekon"-Verschwörung gibt, rückt die Entführung der drei
deutschen Bergsteiger den gefährlichen Krisenherd in der türkischen
Kurdenregion wieder ins Blickfeld. Die Entführung der drei Deutschen
bringt Erdogan zusätzlich in Bedrängnis: Seine eher zögerlichen
Versuche, den seit Jahrzehnten ungelösten Kurdenkonflikt zu
entschärfen, haben bisher wenig Früchte getragen - aber dem Premier
zusätzliches Misstrauen der Militärs eingebracht.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Gerd Höhler)