Neue Westfälische (Bielefeld): Hannelore Kraft ist Ministerpräsidentin
Archivmeldung vom 15.07.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittZwei Monate nach der Landtagswahl beginnt das große politische Abenteuer in NRW. SPD und Grüne regieren, sie haben ohne Unterstützung, aber mit Billigung der Linkspartei Hannelore Kraft zur ersten Ministerpräsidentin gewählt. Voller hochfliegender Pläne und guter Absichten, aber ohne eigene Mehrheit machen sie sich jetzt ans Werk. Kraft, die erste Frau an der Regierungsspitze in NRW, hat in den anstrengenden Monaten seit dem 9. Mai an Statur, an Ansehen, an Respekt auch bei ihren politischen Gegnern gewonnen.
Souverän hat sie ihre Partei durch die aufreibenden Sondierungsgespräche mit Grünen, Linken, CDU und FDP geführt. Leichtfertigkeit kann man ihr wirklich nicht vorwerfen. Möglicherweise wäre ihr eine andere Konstellation am Ende lieber gewesen, ein Bündnis aus SPD, Grünen und FDP. Aber eine solche Ampelkoalition scheiterte an den unvereinbaren Positionen und der tiefen Abneigung zwischen Grün und Gelb. Jetzt geht Kraft ein Wagnis ein, das es in den westlichen Bundesländern noch nie gegeben hat. Sie regiert ohne Mehrheit, auch wenn ihrer Koalition nur eine Stimme fehlt. Sie riskiert bei jedem Gesetz und jeder Initiative das Scheitern. Wenn sich CDU, FDP und Linke zu einer unheiligen Allianz der Neinsager zusammenfinden, laufen alle rot-grünen Pläne ins Leere. Bei den ersten angekündigten Veränderungen ist das nicht zu befürchten. Abschaffung von Studiengebühren und Kopfnoten, neues Vergaberecht, mehr Mitbestimmung im öffentlichen Dienst, mehr Handlungsfreiheit für die Stadtwerke - das alles sind Vorhaben, die die Linken zwar nicht in vollem Umfang billigen, die sie aber nicht scheitern lassen werden. Die Stunde der Wahrheit schlägt für das rot-grüne Experiment, wenn es um den Haushalt für 2011 geht. Die ersten Ankündigungen gehen in eine Richtung, die auch eine rot-rot-grüne Regierung eingeschlagen hätte: Für die Einlösung aller Wahlversprechen werden die Schulden des Landes drastisch erhöht. Weitsichtig ist das nicht. Allein die steigende Zinslast schränkt die Handlungsfähigkeit des Landes ein. Ob SPD und Grüne der Linken so weit entgegenkommen, dass die sogar den Haushalt passieren lässt, muss dennoch bezweifelt werden. Wenn Rot-Grün Ernst macht mit der angekündigten Konsolidierung, kommen sie an Einsparungen und Personalabbau nicht vorbei - Maßnahmen, die die Linke in ihrer derzeitigen Verfassung strikt ablehnt. Auf gelegentliche Unterstützung von CDU und FDP, die Kraft mit dem Wort von der "Koalition der Einladung" beschwört, kann sie nicht hoffen. Bei der Rückabwicklung ihrer eigenen Politik können und werden die Parteien der alten Koalition nicht mitmachen. Bei ihnen stehen die Zeichen auf Opposition total. Wie sehr die ungewissen Zukunftsaussichten die Arbeit belasten, musste Kraft bei der Bildung ihres Kabinetts erfahren. Einige, die sie gern nach Düsseldorf geholt hätte, sagten ab, weil ihnen die Chance auf eine langfristige Beschäftigung zu gering ist.
Quelle: Neue Westfälische