WAZ: Debatte um Sterbehilfe
Archivmeldung vom 05.07.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWenn es nicht so zynisch wäre, müsste man Roger Kusch fast dankbar sein. Nicht dafür, dass er einer lebensmüden Dame geholfen hat, aus dem Leben zu scheiden, sondern dass er - unwillentlich - eine Diskussion um die Würde des Lebens und des Sterbens ausgelöst hat. Was ist ein erfülltes Leben, was erfülltes Sterben?
Wie gehen wir mit dem Tod um, mit Hilflosigkeit und mit - ja, auch das spielt unausgesprochen eine Rolle - der wirtschaftlichen Nutzlosigkeit von Krankheit und Alter?
Die alternde Gesellschaft wird vor allem als ökonomisches Problem
diskutiert. Altersarmut, Rente, Pflege, medizinische Kosten sind die
Stichworte. Solche Debatten vermitteln vielen Älteren das Gefühl, aus
der aktiven Gesellschaft aussortiert zu werden. Nach einer Umfrage
sind nämlich meist nicht das Leiden, die Angst vor Schmerzen oder
Einsamkeit die wichtigsten Motive für den Wunsch zu sterben, sondern
das Mitleid mit den Angehörigen. Das heißt: Ich will euch nicht zur
Last fallen. Es muss etwas fehlen in unserer Gemeinschaft, wenn
Sterbehelfer und Sterbehäuser einen wachsenden Markt finden.
Man muss nicht moralisieren, um einen Verlust von Würde und
Respekt vor dem Leben zu bemerken. In den Niederlanden ist es
möglich, Embryonen, die im Reagenzglas erzeugt wurden und Erbanlagen
für Brust- oder Darmkrebsrisiken aufweisen, vor der Einpflanzung
auszusortieren. Eine Chance auf Menschwerdung erhalten nur Embryos
mit einem positiven Gentest. Aus ethischer Sicht ist das mindestens
problematisch, denn wer legt die Kriterien fest? Werden bald weitere
Krankheiten eine Selektion rechtfertigen, etwa Diabetes, Demenz,
Depression? Wer bestimmt über die Todesliste? Und wo endet sie?
Abgesehen davon, dass die Gene nicht sagen, dass der Mensch später
tatsächlich erkrankt.
Worum geht es? Geht es um ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis
einer Gesellschaft, die keine Risiken akzeptieren will? Um Gesundheit
als Wert an sich? Um ein kostengünstigeres Gesundheitssystem? Oder um
das Vermeiden von Leid? Wer Krankheit auf Kosten des Lebens
abschaffen will, muss sich fragen lassen, nach welchen Maßstäben er
lebenswertes oder lebensunwertes Leben beurteilt. Und das gilt für
den Beginn des Lebens wie für sein Ende. Bei allen rechtlichen und
gesundheitsökonomischen Debatten - die wichtig sind - müssen wir uns
der Frage stellen: Was ist uns die Menschlichkeit wert? Das Recht auf
ein lebenswertes Leben sowie auf einen würdigen Tod gilt jenseits von
Gendefekten, Krankheit und Alter.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Christopher Onkelbach)