WAZ: Zeit, dass sich was dreht
Archivmeldung vom 05.09.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer Ekel macht Beine. Wieder schwärmen sie aus, die Mitarbeiter der Soko Gammelfleisch, um im Bodensatz der Lebensmittel-Branche zu wühlen. Lkw werden gestoppt, Kühlhäuser gefilzt, Lieferlisten beschlagnahmt.
Der tägliche Fahndungserfolg
wird in Tonnen verkündet. Irgendwann heißt es, dass nun alles
grünlich-Ekelhafte beschlagnahmt ist. Was noch fehlt, wurde wohl
verzehrt. Irgendwann wird die Staatsanwaltschaft dann Klage erheben.
Alltag in Deutschland. Eine ekelhafte Routine.
Was für ein jämmerliches Bild. Zwischen Bund und Kommunen wird
nun die Verantwortung für den jüngsten Fleischskandal hin- und
hergeschoben. Verbraucherminister Horst Seehofer klagt bitterlich,
dass die Bundesländer nicht mitziehen. NRW-Minister Eckhard Uhlenberg
fordert retour strengere Strafen, hat aber auch keine anderen
Antworten parat. Und bei Bayerns Verbraucherminister Werner
Schnappauf muss man sich fragen, ob es Hilflosigkeit oder eine
bewusste Verdummung der Verbraucher war, als er trotz der ellenlangen
Pannenserie seiner Behörden sagte: "Hundertprozentige Sicherheit gibt
es nicht."
Eine bodenlose Übertreibung. Wer Panscher, profitgierige
Fleisch-Makler und gewissenlose Verarbeiter dazu einlädt, den
Verbraucher zu betrügen, der sollte nicht von Sicherheit sprechen,
egal welche Prozentzahl er voranstellt. Innerhalb eines Jahres sind
in Deutschland ein halbes Dutzend Fleischskandale aufgeflogen, mit
viel Glück und nur dank der Zivilcourage aufmerksamer Beobachter. Was
alle Skandale eint: Es sind eben nicht die "schwarzen Schafe", eben
keine Einzeltäter, die am Werk sind. Gammelfleisch hat System: Da
wird umetikettiert, umgeladen, verarbeitet. Durch viele Hände ist das
ranzige, stinkende Fleisch gewandert. Und in etlichen Kühlhäusern lag
es über Jahre. Das ist Betrug mit System.
Man kann aber auch sagen: Das System schreit nach Betrug. Wenn
überführte Unternehmen die Strafe aus der Portokasse zahlen, wenn
Pfuscher nicht fürchten müssen, beim Namen genannt zu werden, wenn
Bundesländer Kontrolleure einsparen und statt dessen an die Branche
appellieren, bitteschön ehrlich zu sein und Verstöße anzuzeigen, dann
fragt man sich, was eigentlich noch passieren muss, ehe
eingeschritten wird. So kann es und so darf es nicht weitergehen.
Offenheit? Als vor zehn Monaten in NRW Gammelfleisch beschlagnahmt wurde, nannten die Behörden die Namen der verarbeitenden Betriebe nicht. Die Furcht vor Schadensersatzklagen war größer als die Rücksicht auf das Ekelgefühl und Gesundheit des Supermarktkunden. Das sagt eigentlich alles über ein System der Lebensmittelkontrolle, das gammelig geworden ist.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung