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Börsen-Zeitung: Am Rande des Abgrunds

Archivmeldung vom 08.05.2010

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 08.05.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

So etwas hat es in der langen Geschichte des Dow Jones noch nicht gegeben: Der Index rutschte binnen weniger Minuten um 998,5 Punkte bzw. rund 9% ab, er verzeichnete seinen bisher stärksten in Punkten gerechneten Intraday-Verlust. Rund 1 Billion Dollar an Marktkapitalisierung wurden zumindest zeitweise ausgelöscht. Einen Tag nach dem denkwürdigen Ereignis tappen Börsenbetreiber und Aufsichtsbehörden noch im Dunklen, wie es zu dem Desaster gekommen ist.

Man darf gespannt sein, was das US-Finanzministerium und die amerikanische Börsenaufsicht Securities and Exchange Commission (SEC) in den mittlerweile angelaufenen Untersuchungen als Auslöser identifizieren. Letztlich ist es aber von nur geringer Relevanz. Viel interessanter ist die Frage, warum eine fehlerhafte Transaktion eines Händlers oder vielleicht auch ein Manipulationsversuch den gesamten Börsenhandel in den USA in die Knie zwingen konnte, ohne dass die Börsenbetreiber und die Marktaufsicht in der Lage waren, etwas dagegen zu unternehmen. Die Ursachen dafür lassen sich bereits jetzt einigermaßen klar identifizieren.

Eine wichtige Rolle spielen dabei die unzureichenden und wenig zweckmäßig konstruierten Circuit Breaker der New York Stock Exchange (Nyse), die immer noch der wichtigste Handelsplatz für amerikanische Blue Chips ist. Unter Circuit Breakers versteht man Sicherungen, die den Börsenhandel bei extremen Kursverlusten unterbrechen oder stark verlangsamen.

Der wichtigste Circuit Breaker ist jedenfalls trotz der chaotischen Zustände am Donnerstag noch gar nicht ausgelöst worden. Er greift erst, wenn der Dow Jones an einem Handelstag um 10% unter den Durchschnittspreis des Vormonats fällt. Eine Handelsunterbrechung erfolgt aktuell erst bei einem Verlust des Dow Jones von 1050 Punkten, damit also sehr spät. Bis November 2007 gab es eine weitere, sehr effektive Sicherung: Es wurde der gesamte computergestützte Handel, der damals rund 50% des gesamten Volumens an der Nyse ausmachte, unterbrochen, sobald der Dow um 2% unter den Vortagsstand fiel. Dieser Mechanismus wurde recht häufig ausgelöst, er war daher vielen Banken, die sich im computergestützten algorithmischen Handel engagieren, ein Dorn im Auge.

Stattdessen gibt es nun sogenannte Liquidity Replenishment Points (LRP): Ab bestimmten Kursniveaus, die von der Nyse nicht veröffentlicht werden, unterbricht der Börsenbetreiber die automatische Ausführung von Orders und verlangt, dass Börsenhändler jede Transaktion bestätigen. Die Sache hat jedoch einen Haken: Gleichzeitig verliert in diesem Fall die SEC-Vorschrift "Regulation NMS" zeitweilig ihre Gültigkeit, gemäß der Broker sicherstellen müssen, dass sie für ihre Kunden immer den besten Preis realisieren. Damit können Order zu anderen Handelsplattformen umgeleitet werden, womit die LRP effektiv unterlaufen werden können. Wieder einmal hat also eine Deregulierung, die auf Druck der Finanzbranche erfolgte, schwerwiegende negative Folgen gezeigt.

Was auch immer der Auslöser war, der Absturz des Dow ist durch High Frequency Trading (HFT) potenziert worden, also den computergesteuerten Handel, der mit extremer Geschwindigkeit ohne menschlichen Eingriff erfolgt. Dieser algorithmische Handel macht am US-Aktienmarkt bereits bis zu 75% des Volumens aus, in Europa sind es Schätzungen zufolge bis zu 60%. Problematisch ist dabei, dass die Börsenbetreiber - darunter auch die Deutsche Börse-einen unkontrollierten direkten Zugang zum Markt gewähren, ohne dass Banken oder Börsenhändler eingreifen können. Bisher ist HFT vor allem unter dem Gesichtspunkt ungerechtfertigter Gewinne auf Kosten anderer Marktteilnehmer kritisiert worden. Nun ist klar geworden, dass es auch sehr reale und gravierende systemische Risiken gibt - insbesondere in Zeiten wie diesen, in denen die Nerven der Marktteilnehmer blank liegen.

Eine fast grenzenlose Deregulierung und die Veränderungen der Börseninfrastruktur zugunsten von HFT haben die Märkte an den Rand des Abgrunds gebracht. Wenn nicht schleunigst die regulatorische Trendwende eingeleitet wird, sind wir schon bald einen entscheidenden Schritt weiter.

Quelle: Börsen-Zeitung

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