WAZ: Start zum Bundestags-Wahlkampf
Archivmeldung vom 29.01.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 29.01.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittAuch die fulminante Aufholjagd der hessischen SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erosion der großen Volksparteien voranschreitet. Die hessischen Sozialdemokraten starteten erstens auf einem sehr niedrigen Niveau, und sie fuhren zweitens ihr zweitschlechtestes Ergebnis in Hessen ein.
Der reflexartige Jubel der Union wird ebenfalls schnell abebben: Der alte und neue Ministerpräsident Christian Wulff hat in Niedersachsen fast sechs Prozentpunkte verloren - in ihrer Analyse für Hessen redet die CDU nicht drumherum und spricht zielgenau von einem Desaster.
Beide Parteien sind Getriebene der Gerechtigkeitsfrage.
Globalisierung, Altersarmut, Nokia, Manager-Gehaltsexzesse,
Bankenkrise: So unvergleichbar all diese Themen auch sind - für viele
Menschen sind diese Ereignisse das Ergebnis einer grassierenden
Sozialspaltung, die wenige begünstigt, viele benachteiligt und noch
mehr in Abstiegs- und Zukunftsängste stürzt. Dazu passt der Trend,
dass die Deutschen den Wert der Handlungs- und Entscheidungs-Freiheit
theoretisch zu schätzen wissen. Sobald es um die praktische Umsetzung
geht, wechseln sie aber mittlerweile mehrheitlich die Perspektive und
rufen nach dem Staat, der für Gerechtigkeit sorgen soll.
Die Linke hat als erste Partei konsequent auf diese Gemütslage
reagiert und sich zur Partei der sozialen Entrüstung entwickelt: Wir
haben die Entwicklung als Problem erkannt, und wir stemmen uns
dagegen. Auf dieses Signal haben offenbar viele Menschen gewartet.
Nicht, dass die SPD diese Wilderei in ihrem Themenrevier nicht ernst
nehmen würde. Der von Parteichef Beck verordnete Linkskurs ist die
Reaktion darauf. Und doch stecken die Sozialdemokraten in der Falle.
Denn in der Wahrnehmung vieler Menschen hinkt die SPD hinterher, gilt
sie nicht mehr als das beschützende Original.
Es sind keineswegs nur Randgruppen oder verträumte
Sozialaktivisten, die über Gerechtigkeit diskutieren - diese Debatte
findet in der Mitte der Gesellschaft statt. Entsprechend heftig
drängt die CDU in diese Richtung. Mindestlöhne, Ökologie statt
Ökonomie, ein neues Unterhaltsrecht mit einer Aufwertung von
erziehenden Ex-Ehefrauen: Kanzlerin Merkel geht mit immer größeren
Schritten auf die SPD zu. Damit wächst die Gefahr, einen Teil der
ur-christdemokratischen Klientel zu verlieren. CDU und SPD, beide
wissen: Gerechtigkeit bedeutet Macht. Der Kampf um ein soziales
Profil wird eines der beherrschenden Themen des Bundestags-Wahlkampfs
sein.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Norbert Robers)