Westfalenpost: EU-Durchwursteln ist Königsdisziplin
Archivmeldung vom 21.06.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEines muss man der EU lassen: Beim Durchwursteln ist sie eine Klasse für sich. Auf die große Vertragskrise nach dem fehlgeschlagenen irischen Referendum antworten die Staats- und Regierungschefs mit Kleingedrucktem.
Das Schwert, mit dem man dicke Knoten zerschlägt, blieb wieder mal stecken. Statt dessen ist hochelastisches Formulierungsgummi im Angebot, nach dem Motto: Sieht nicht toll aus, hält aber den Lissabon-Vertrag noch gerade zusammen. Wenn man Angela Merkel hört, ist das Wursteln geradezu die Königsdisziplin europäischer Politik. Es ist wie nach einem vergurkten Spiel der Nationalmannschaft. Da rauft man sich die Haare, geht in sich und überprüft alles gründlich. Aber dann kommt das nächste Spiel, und die Frage stellt sich schlicht und konkret: Wen wechseln wir aus? Also: Voran kommt man nicht mit Gezeter und Träumereien, sondern nur, wenn man in der Lage ist, den nächsten Schritt zu tun. Dieser staubtrockene Pragmatismus hat durchaus einiges für sich. Im vorliegenden Fall ist er tatsächlich der einzige plausible Weg, eine verzweifelt schlechte EU-Geschäftsordnung ("Nizza") durch eine erkennbar bessere ("Lissabon") zu ersetzen. Auf der Strecke bleibt freilich ein Ansatz, wie die Veranstaltung Europa wieder zur Herzensangelegenheit derer gemacht werden kann, um die es geht. Nicht unbedingt als Leidenschaft, wohl aber als grundsätzliches Einverständnis. Auch in der Bundesrepublik sind die Menschen ihrem Staatswesen und seinen Lenkern nicht in reiner Liebe zugetan. Gäbe man ihnen die Gelegenheit, darüber abzustimmen, was sie von "der Politik" halten, würde man nicht mehr Zustimmung ernten als die irische Regierung mit ihrer Europa-Frage. Was aber natürlich nicht hieße, dass die Bundesbürger lieber in einem anderen Gemeinwesen leben würden. Diese selbstverständliche Billigung der Verhältnisse ist dem Unternehmen Europa abhanden gekommen. Es gab sie Jahrzehnte lang: für die Überwindung alter Feindschaften nach dem Krieg, für die Abschaffung der Grenzen, für den freien Binnenmarkt. Sie wurde notleidend mit dem Projekt der gemeinsamen Währung, und sie ist vollends abhanden gekommen mit der so genannten Ost-Erweiterung. Seither ist Europa argumentativ in der Defensive - wenn es gut geht, eine Notwendigkeit, aber Wert oder Anliegen nur mehr für eine Minderheit. Der Gipfel hat einen Weg aus dem aktuellen Schlamassel ins Auge gefasst. Doch die EU bleibt in der Defensive. Wie es bei der EM heißt: Sie lassen sich zu sehr an den Strafraum zurück drängen.
Quelle: Westfalenpost (von Knut Pries)