WAZ: SPD in Streit und Konfusion
Archivmeldung vom 19.05.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEtwa 25 Prozent. Das bekäme die SPD, würde heute gewählt. Ist das noch die Sozialdemokratie, die einmal Scharen gerade junger Menschen an sich zog, die für politische Frische und Modernität stand und die hohen moralischen Ansprüchen genügte? Der Blick in die Gegenwart der Partei stimmt selbst Leute traurig, die ihr nicht nahestehen. Wie verwirrt verfängt sie sich in ideologischen oder taktischen Fallen.
Oft selbst gestellt. Die Führung aus Beck, Steinbrück, Steinmeier und Nahles belauert sich gegenseitig. Wo sie geschlossen sein sollte, zerfällt sie in auseinanderstrebende Richtungen, wenn es um Reform- und Sozialpolitik geht. Für wen, für welchen Kurs, sollen die Wahlhelfer kämpfen, wenn sie am Stand in den Einkaufsstraßen der Innenstädte Bürgern Rede und Antwort stehen?
Die Liste der Irritationen und handwerk-licher Fehler ist lang:
Becks Kopfüber-"Linksruck" vor der Hessenwahl und der Wortbruch von
Ypsilanti kurz danach war das Gegenteil von vertrauenseinflößend. Und
während Merkel Sympathiepunkte sammelt, verschreckt die SPD Volk und
Wähler mit Streit und Burlesken um das Treffen mit dem Dalai Lama:
Ein chaotischer Eindruck, wenn SPD-Kabinettsmitglieder gegenteilig
agieren und der Chef gar nicht weiß, was gerade läuft. Jetzt droht
mit internem Aktionismus um eine mögliche Gegenkandidatin Köhlers die
nächste Konfusion. Und auf ihrem ureigensten Acker, der Politik für
die Schwachen, gräbt ein christdemokratischer Ministerpräsident
Rüttgers mit Initiativen für Langzeitarbeitslose und Rentner der SPD
das Wasser ab.
Allmählich ist die Partei zum Experimentierlabor für Gefühle und
Überzeugungen ihrer Mitglieder, Sympathisanten und Wähler geworden.
Darüber hat sie ihre historische Bedeutung aus ihrem Sichtfeld
verloren: Nämlich nahe beim Menschen ein Fels in gesellschaftlichen
und ökonomischen Umbrüchen zu sein. Die wahre Aufgabe der SPD kann
doch nicht in Scharaden der Tagespolitik liegen. Ihre Aufgabe heute
muss sein: Eine Politik zu definieren, die den Umwälzungen der
Globalisierung Rechnung trägt - ohne zahllose Menschen in Ängsten
oder gar Abstieg allein zu lassen: Das muss zum Herzstück moderner
Sozialdemokratie werden! So aber erreicht sie die Mitte nicht mehr
und gibt untere Schichten für andere frei: Lafontaine und der
Linkspartei-Populismus reiben sich seit langem die Hände.
Der Preis ist hoch, den die SPD für ihre Irritationen zahlt. Wenn
die Grundfrage für eine Partei lautet: Kann man ihr den Staat
anvertrauen, dann meinen momentan 75 Prozent, den Sozialdemokraten
besser jetzt nicht.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Rolf Potthoff)